Gestern kam an dieser Stelle Claus Köhler zu Wort (siehe seinen Text zum 9. November 1989 und meine Einleitung zu Hintergrund und Person hier). Am selben Tag, dem 9. November 2014, schrieb ich auch Wolfgang Schöller an, ebenfalls Professor emeritus für Volkswirtschaftslehre, jedoch mit einer sehr anderen beruflichen Laufbahn als Claus Köhler. Wolfgang Schöller hat unter anderem an den Universitäten in Dar es Salaam, Tansania, und in Maputo, Mosambik, gelehrt und geforscht. Während meiner Studienzeit in Hamburg war er mein wichtigster Lehrmeister (siehe dazu auch meine Einleitung hier) und ist es bis heute geblieben, samt kritischer Begleitung meiner Arbeit und dieses Mediums. Hier nun seine Antwort auf meine Frage, wie er denn den 9. November 1989 erlebt hat.
Am 9. November 1989 staunte ich vor der Glotze in Hamburg. Ich hatte sofort gedacht, dass die Kommunisten einmal die Macht abgeben, das kann doch nicht sein, jetzt ist wohl alles wieder möglich. Den 9. November 1989 und dessen Folgen erfuhr ich aber vor allem im damals noch sozialistischen Mosambik.
Ich war dort zu einer Kurzzeitdozentur, es muss im Frühjahr 1990 gewesen sein. Als ich in die mir wohlvertraute Ökonomische Fakultät kam, in der ich vom temporären Lehrverbot bis hin zu sowjetischer Realsatire gleichsam vier sehr interessante Jahre verbracht hatte, begegnete ich einem Kollegen aus der DDR. Er war der Oberaufseher der Stasi für die Hunderten von DDR-Internationalisten in Mosambik. Als er mich sah, kam er rasch auf mich zu, umarmte mich wie seinen besten Freund. Na, sagte ich, wen treffe ich denn hier? Es ist wohl besser, noch etwas hier zu bleiben. Der Typ, mit dem früher nicht zu spaßen war, schien wirklich gerührt zu sein. Sein Verhalten erinnerte mich an die vielen herumstreunenden Hunde in Maputo in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit. Die Portugiesen, die nach Portugal zurückgegangen bzw. emigriert waren, hatten alles, was nur ging, mitgenommen. Ihre Hunde ließen sie aber zurück. Diese verlassenen Hunde schnupperten viel herum, waren keineswegs aggressiv, sie waren zutraulich und suchten irgendeinen Bekannten, etwas Vertrautes. Sie waren auf der ständigen Suche nach ihren Herrchen. Mein Stasi-Kollege hatte ein Verhalten, das ich nur mit dieser Metapher eines verlassenen Kolonialhundes beschreiben kann. Ende desselben Jahres lief mir in Hamburg derselbe Kollege am Campus über den Weg. Er nehme an einer Fortbildung des Möllemann-Programms teil. Etwas schwanger sein, ginge ja nicht, so seine Erkenntnis über den marktwirtschaftlichen Lauf der Dinge.
Wenige Jahre später kam ich nochmals an die Fakultät in Maputo. Ich sollte
den Kurs Entwicklungstheorie und Außenhandel geben. Wie sich das gehört,
hatte ich Merkantilisten und David Ricardo, Friedrich List, Charles Wilber, A.W. Lewis usw. auf der Liste. Ein Chilene, der früher als Kopf der Kommunistischen Partei-Cooperanten mit UNO-Gehalt mir im Beisein des Rektors ex cathedra sagte, dass Marxisten-Leninisten Handel nur mit Marxisten-Leninisten betreiben würden, wies mich nun darauf hin, dass ich diese voluntaristischen Texte nicht zu verwenden hätte. Die Entwicklungsberichte der Weltbank seien für meinen Kurs vorgesehen. Auch das war eine Folge meines anderen 9. November.
Nachtrag von Wolfgang Schöller zum 9. November 1989 und 9. November 2014:
Ich komme gerade von der Mauer zurück. Nur kurz soviel zu den Feierlichkeiten damals und heute: Ich finde es wirklich erfreulich, dass da keinerlei schwerfälliger Nationalismus vorkommt. Die Leute am Potsdamer Platz waren gut gelaunt, locker und völlig ohne Pathos. Als die Luftballons hochgingen, gab es einen Applaus, da Kinder ihren Drachen, Elefanten usw. steigen ließen.
Damals zur Wiedervereinigung im Bundestag gab es eine wirklich bescheidene Ansprache, dann ein klassisches Streichkonzert, das war´s. Keine Fackeln, keine Fuß-Stafetten der Bundeswehr, keine Paraden. Das machte doch der BRD kein anderes Land nach, bei einem derartigen Ereignis auf jeden nationalen Brei zu verzichten. Das, was ich vorhin bemerkte, war nicht anders. Auch wenn die Linke damals flächendeckend sauer war, und es heute toll ist, über dieses “Oktoberfest” hinwegzuschweigen, ich finde es immer noch erleichternd, in einer postnationalen Nation zu leben. Am Ludwigkirchplatz gab es Blumen und Kerzen auf Stolpersteinen. Auch das gehört dazu.
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