Chef der Bundesagentur für Arbeit ignoriert Funktionsweise des Arbeitsmarkts und soziale Freiheitsberaubung durch Hartz IV

Die Welt und andere Medien berichten heute früh, dass der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, gegenüber “Bild” gesagt hat: “Hartz IV ist das beste Programm, das wir je hatten”. Und Deutschland, so Weise weiter, sei “auf lange Sicht auf dem Weg zur Vollbeschäftigung”. Die aktuelle Eintrübung der Konjunktur, meint Weise darüber hinaus, treffe den Arbeitsmarkt derweil nicht. Zwei Dinge bringt Weise damit zum wiederholten Mal zum Ausdruck: Er versteht die Funktionsweise des Arbeitsmarkts nicht. Und er ignoriert das soziale Elend, das Hartz IV nicht allein über die Arbeitslosen gebracht hat, sondern über viele Millionen Beschäftigte.

Erst einmal sollte auch in diesem Zusammenhang festgehalten werden, wie prekär es um die deutschen Medien bestellt ist. Wie ein Blick in google news zeigt, sind sie keine “vierte Gewalt”, die das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Geschehen hinterfragen, sondern Papageien, in diesem Fall auf der Schulter des Chefs der Bundesagentur für Arbeit.

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Deutschland weit entfernt von Vollbeschäftigung

Selbst “Die Welt” hält am Ende ihres Beitrags immerhin fest:

“Vollbeschäftigung wird gemeinhin bei einer Arbeitslosenquote von unter drei Prozent konstatiert. In Deutschland lag diese zuletzt bei 6,3 Prozent.”

Wir sind in einem Punkt sogar konservativer und gehen in unseren Analysen immer davon aus, dass Vollbeschäftigung nicht unter, sondern bereits bei drei Prozent als gegeben angesehen darf. Die Arbeitslosenquote aber liegt mit 6,3 Prozent mehr als doppelt so hoch. Bezieht man die Zahl der Arbeitslosen nicht wie hier auf alle zivilen Erwerbspersonen, sondern auf diejenigen, für die die Bundesagentur vor allem zuständig ist, die abhängig beschäftigten zivilen Erwerbspersonen, liegt die Arbeitslosenquote noch ein gutes Stück höher, nämlich bei sieben Prozent. Zieht man gar die weiter gefasste Unterbeschäftigung (ohne Kurzarbeit) heran, beträgt die Quote 8,2 Prozent (Zahlen der Bundesagentur für Arbeit, Monatsbericht Oktober 2014). Selbst der in der Regel stets zu optimistisch vorausschauende Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung geht in seinem gerade erst vorgestellten Jahresgutachten davon aus, dass die Arbeitslosenquote auch im nächsten Jahr unverändert hoch bleiben wird.

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Hätte es in den Überschriften der anderen Medien daher nicht eher heißen müssen: Chef der Bundesagentur fantasiert über Vollbeschäftigung? Aber Weise hat sich ja vorsichtshalber das Hintertürchen namens “auf lange Sicht” offengehalten. Sollte aber das nach Weise “beste Programm”, Hartz IV, nicht nach jetzt fast zehn Jahren doch endlich einmal zur Vollbeschäftigung geführt haben, und wenn ja, warum hat es das nicht? Diese Frage sollte von einem hochbezahlten “Manager” wie Weise doch gestellt werden. Oder zumindest von den auch immer noch gut bezahlten Chef-Redakteuren der etablierten Medien, die ihn stattdessen aber nur nachplappern oder ihr Personal nachplappern lassen.

Die Konjunktur ist entscheidend – Hartz IV aber belastet Konjunktur

Weises Aussage, die aktuelle Eintrübung der Konjunktur treffe den Arbeitsmarkt derweil nicht, erklärt vielleicht warum er jene Frage nicht stellt, und warum er Hartz IV als das “beste Programm” feiert. Denn anders als es Weise, Politiker aller Couleur, ja selbst Gewerkschafter glauben und glauben machen wollen, ist es nach wie vor die Konjunktur, die über die Arbeitslosigkeit entscheided. Das gilt nicht nur für die Arbeitslosigkeit insgesamt, sondern auch für die Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit. Wir haben dies in verschiedenen Beiträgen nachgewiesen (siehe zuletzt hier [im Abonnement], hier [im Abonnement] und hier [im Abonnement]). Hartz IV hat die Abhängigkeit des Arbeitsmarktes von der Konjunktur nachweislich nicht aufgelöst. Sie ist aktuell enger denn je. Stattdessen hat Hartz IV die Konjunktur belastet, weil dieses “Programm” über weite Zeiträume für eine nicht verteilungsneutrale Lohnentwicklung zulasten der Beschäftigten gesorgt hat. Die Löhne aber sind das mit Abstand größte Aggregat der Volkswirtschaft. Ihre Entwicklung muss daher die Konjunktur ausschlaggebend beeinflussen. Dass dieser Einfluss nicht nur die Konjunktur in Deutschland belastet, sondern auch die der Europäischen Währungsunion und die Weltkonjunktur insgesamt, zeigt die Entwicklung seit dem Frühjahr 2011 in besonders markanter Weise, nachdem die EU-Kommission, nicht zuletzt auf Druck Deutschlands, jenes falsche Verständnis von Konjunktur und Arbeitsmarkt auch jenen Ländern empfohlen und aufgenötigt hat. Dass dieser Zusammenhang sich auch positiv ausdrücken kann, zeigt im selben Zeitraum die Entwicklung in den USA, wo, entgegengesetzt zu Weises Verständnis, die Wirtschaftspolitik auf den engen Zusammenhang von Konjunktur und Arbeitslosigkeit ausgerichtet wird (siehe dazu unsere Analyse zuletzt hier).

Hartz IV ist soziale Freiheitsberaubung

Schließlich spielt Weise über die verheerenden sozialen Auswirkungen hinweg, die Hartz IV in Deutschland und – über die Übertragung dieser Politik auf Länder der Europäischen Währungsunion – in Europa mit sich gebracht hat, wenn er lapidar feststellt: “Natürlich gab es Verlierer, aber in der Summe war die Agenda 2010 für die Menschen ein Gewinn.” Auch hier sprechen Politik, die einschlägigen privaten und öffentlich rechtlichen Medien sowie die Wirtschaftsverbände mit einer Stimme.

Diese “Verlierer” aber sind Millionen Menschen. Die Arbeitslosen, die nach einem Jahr in die Existenzkrise rutschen und gezwungen werden, ihre finanziellen und familieren Verhältnisse offen zu legen und, unter Androhung von Sanktionen, jede Arbeit anzunehmen. Das ist nicht nur soziale Freiheitsberaubung per Gesetz. Die Betroffenen werden auch für etwas beschuldigt, für das sie nicht verantwortlich sind, sondern die Konjunktur und die sie beeinflussende Wirtschaftspolitik. Man denke nur an die negative Differenz aus der Zahl der offenen Stellen (Arbeitsnachfrage) und der Zahl der Arbeitslosen (Arbeitsangebot), Zahlen die der Chef der Bundesagentur seinem Monatsbericht entnehmen kann. Es fehlen mehr als zwei Millionen Stellen (siehe dazu zuletzt hier). Hinzu kommen die Beschäftigten, die nicht zuletzt aufgrund der Angst vor Hartz IV dazu bereit waren und sind, eine unangemessen niedrige Lohnentwicklung zu akzeptieren und damit nicht nur ihre gegenwärtige Existenz, sondern auch die im Alter aufs Spiel setzen, wie die Zahlen zur wachsenden Altersarmut gerade erst wieder belegt haben.

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