Die Wahl in Griechenland könnte die Europäische Währungsunion und Europa insgesamt erschüttern – besonders Deutschland

Die am Sonntag stattfindenden Wahlen in Griechenland könnten, sollten sie den Parteichef der Syriza, Alexis Tsipras, an die Macht bringen, ganz Europa erschüttern, besonders Deutschland. Vorausgesetzt, dass Tsipras der Austeritäspolitik tatsächlich ein Ende setzt. Austerität steht für staatliche Ausgabenkürzungen, Lohnsenkungen und den Abbau von Arbeitnehmerrechten. Sie hat die griechische Volkswirtschaft in eine tiefe Depression gestoßen. Unvorstellbar viele Menschen sind von der daraus resultierenden Arbeitslosigkeit, Armut und Perspektivlosigkeit betroffen. Zu viele, zu lange. Drei Szenarien.

Das erste Szenario ist das, wovon in Deutschland zumindest die meisten PolitikerInnen und JournalistInnen ausgehen: Tsipras wird Kompromisse eingehen und von seinen als “radikal” eingestuften Forderungen Abstand nehmen. Das sei schließlich auch die Voraussetzung, Koalitionspartner zu finden. Denn eine absolute Mehrheit wird ihm nicht vorhergesagt. Diese Entwicklung würde darauf hinaus laufen, dass die bisherige politische Ausrichtung grundsätzlich beibehalten wird. Vielleicht ein weiterer Schuldenschnitt, vielleicht etwas mehr Luft bei der Umsetzung der Austerität. Griechenland und die EWU würden sich nach diesem Szenario wie gehabt weiter entwickeln. Das hieße aber auch, dass Tsipras seine WählerInnen nicht zufrieden stellen kann. Die Politik wird sich auch weiterhin als ungeeignet erweisen, Griechenland aus der Depression herauszuführen. Jedenfalls in einem zeitlich vertretbaren Rahmen. Der aber erscheint lange schon überspannt. Sonst wäre Tsipras jetzt nicht an der Macht. Deswegen erscheint es mir gerade nicht als das wahrscheinlichste Szenario, sondern als das unwahrscheinlichste. Sollte es aber Realität werden, kann auch dieses Szenario unfriedlich enden. Die Unzufriedenheit der Menschen über den Wahlbetrug kann zu Unruhen führen, die die Machtverhältnisse kurzfristig erneut verschieben. Diesmal vielleicht ganz nach rechts. Vielleicht hin zu einer Partei, die sich mit Gewalt an die Macht bringt, “um Ruhe und Ordnung wieder herzustellen”.

Das zweite Szenario könnte so aussehen: Tsipras hält sich an sein zentrales Wahlversprechen, das Ende der Austerität. Jede Partei, die mit ihm in die Regierung möchte, und sei es auch nur, um an den Trögen der Macht zu bleiben, muss sich seinem politischen Kurs unterordnen. Ein Vorteil für Tsipras: Er hat zwar einige konkrete Schritte genannt, mit denen er das Ende der Austerität einläuten will: die Anhebung der Renten und Beamtenbezüge, die Wiedereinstellung entlassener Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, eine internationale Schuldenkonferenz. Das alles aber engt ihn nicht so sehr ein, dass er nicht in ernsthafte Verhandlungen über einen Politikwechsel mit der EU-Kommission und dem IWF eintreten könnte. Es zeigt aber auch bereits Tsipras Schwäche. Seine Politik trägt, zumindest nach außen, keine klaren Konturen. Eine klare Kontur wäre, ein Wachstums- und Beschäftigungsziel für Griechenland festzulegen und mit der EU-Kommission, dem IWF und der EZB zu verhandeln. Damit bekämen seine Wähler nicht nur unmittelbar eine Perspektive, sondern ein solches Ziel würde tatsächlich eine Wende bedeuten, nämlich die Abkehr von einer Politik, die die Misere den Strukturen der Wirtschaft zuschreibt (Austerität), hin zu einer Politik, die auf die Konjunktur setzt, um die Arbeitslosigkeit zu überwinden. Die Voraussetzungen dafür zu schaffen, könnte in eine gesamteuropäische Politik münden. Warum auch dieses Szenarion unwahrscheinlich ist: Die ausklingende Woche hat gerade noch einmal bewiesen, dass alle derzeit relevanten politischen Entscheider einer politischen Kehrtwende eine Absage erteilen würden. Die Kanzlerin und der Vizekanzler und Wirtschaftsminister in Davos. Gabriel: “Es gibt dazu keine Alternative.” (Minute 9:21; wer immer noch glaubt, die SPD böte eine Alternative zur CDU, dem sei dieses Video besonders empfohlen; es ist aber unabhängig davon ein eindrucksvolles Zeitdokument zur deutschen Europapolitik, die sich in nichts von der deutschen “Reform”-Politik der Agenda 2010 unterscheidet, außer vielleicht noch radikaler zu agieren; niemand erklärt dies besser, als Gabriel in diesem Video; die “Wettbewerbsfähigkeit”, in deren Dienst Gabriel die Austeritätspolitik stellt, bildete auch den Kern der Ausagen Merkels und Schäubles. Man kommt nicht umhin, darin etwas totalitäres zu sehen.) EZB-Chef Draghi in Frankfurt am Main. Der italienische Ministerpräsident bei seinem Besuch der Kanzlerin in Berlin. Der französische Ministerpräsident. Obwohl also Länder wie Frankreich und Italien aufgrund derselben Wirkungszusammenhänge in einer vergleichbaren Situation sind wie Griechenland, versuchen sie den deutschen Weg der Austerität bzw. der Agenda 2010 zu gehen. Ein politisches Bündnis von Griechenland über Frankreich und Italien bis Portugal und Spanien erscheint vor diesem Hintergrund nicht realistisch.

Das dritte Szenario liegt dann auch viel näher: Obwohl Tsipras den Griechen gesagt hat, auch er wolle den Euro behalten, und das durchaus glaubwürdig, sieht er sich nach gescheiterten Verhandlungen am Ende gezwungen, die Europäische Währungsunion zu verlassen. Er sucht sein Heil bzw. das Griechenlands in einer Rückkehr zur Drachme. Die wertet um dreißig, vierzig Prozent gegenüber dem Euro ab. Sein erster Schritt, noch vor Bekanntgabe der Rückkehr zur Drachme, ist die Einführung strenger Kapitalverkehrskontrollen. Er legt, finanziert durch die Notenpresse und durch eine drastische Besteuerung sehr hoher Vermögen, große Beschäftigungsprogramme auf und zielt dabei auf eine konsequente Modernisierung der Infrastruktur und ausgewählter Produktionsbereiche. Hierzu lädt er auch ausländische Investoren ein, die allerdings, vergleichbar der Politik asiatischer Schwellenländer, in eine stringente Entwicklunsplanung integriert werden, griechische Beteiligungen, Joint Ventures beinhalten, Beschäftigungs-, Technologie- und Produktionsziele. Um eine ausufernde Inflation zu vermeiden, führt er übergangsweise auch Preiskontrollen ein, wenn und wo es unbedingt notwendig erscheint. Zu seiner Strategie gehört auch eine breite Erschließung ausländischer Märkte, sowohl innerhalb, als auch außerhalb Europas. Zur kurzfristigen Unterstützung seiner Vorhaben bittet er erfahrene Entwicklungsökonomen und Politiker um Mithilfe. Renommierte Ökonomen wie Paul Krugman springen ihm zur Seite, aber auch elder statesman, die auf eine eigene erfolgreiche politische Entwicklung ihres Landes zurückblicken können.

Es fällt nicht schwer sich vorzustellen, welche Aufbruchstimmung von solch einem Schritt ausgehen kann, wenn er nur rational, professionell und mit dem notwendigen politischen Fingerspitzengefühl durchgeführt wird. Es fällt auch nicht schwer, sich vorzustellen, was für ein Befreiungsschlag dies bedeuten kann. Nach vier Jahren oktroyierter Entbehrungen kommt dies fast einer neu gewonnenen staatlichen Unabhängigkeit gleich. Das es möglich ist, haben zahllose asiatische Volkswirtschaften bewiesen, von der Entwicklungsgeschichte einmal ganz abgesehen.

Schließlich fällt es auch nicht schwer, sich vorzustellen, wer bei einem solchen Schritt besonders dumm aus der Wäsche gucken würde: Deutschland natürlich. Ein weiteres Mal in seiner Geschichte, so würde deutlich, ist Deutschland außenpolitisch zu weit gegangen. Wie gesagt: Die Borniertheit und Selbstzufriedenheit, die Überheblichkeit, der Dogmatismus deutscher Politik, die Gleichgültigkeit, mit der über das Elend von Millionen Menschen hinweggesehen wird, das durch eben jenen Dogmatismus hervorgerufen worden ist, tragen unverkennbar totalitäre Züge. Davos hat diesen Eindruck noch einmal bestärkt.

Natürlich stünde mit dem Austritt Griechenlands die ganze Europäische Währungsunion vor einem Scherbenhaufen und mit ihm jener Dogmatismus, den sich ja nicht allein Merkel, Schäuble und Gabriel zu eigen gemacht haben, sondern auch die EU-Kommission und die Mehrheit des Europaparlaments. Aber steht die Europäische Währungsunion gegenwärtig etwa nicht vor einem Scherbenhaufen, ja, die gesamte europäische Idee? Natürlich tun sie das. Sie sind auf dem Altar einer falsch verstandenen “Wettbewerbsfähigkeit” geopfert worden. Genauso wie die Millionen Arbeitslosen, die durch diese Politik ihrer Existenz beraubt wurden. Wie kann es eigentlich sein, dass dies auch dem deutschen Journalismus mehrheitlich entgangen ist? Ganz einfach: Sie sind Anhänger derselben Ideologie. Und jede Ideologie macht nun einmal blind gegenüber der Wirklichkeit, weil die Idee bestimmt und nicht die Wirklichkeit. Deswegen aber wurden Ideologien ja auch immer wieder von ihr eingeholt: von der Wirklichkeit.

Die Auswirkungen eines Austritts Griechenlands aus der Europäischen Währungsunion werden dann auch nicht allein ökonomischer Natur sein, sondern auch psychologisch wie eine Bombe einschlagen. Wer sich so verrannt hat wird nur schwer damit umgehen können. Gut vorstellbar, dass nicht in Griechenland, sondern im Rest Europas Panik ausbricht. Wird Deutschland, werden die EU-Kommission, das Europäische Parlament, die EZB, konfrontiert mit dem Austritt Griechenlands, einlenken, noch einmal versuchen zu retten, was noch oder schon nicht mehr zu retten ist? Kaum vorstellbar vor dem Hintergrund des aufgezeigten Gemütszustands. Was aber passiert mit dem großen Rest der Europäischen Währungsunion, ohne dem kleinen Griechenland, dem alle Schuld an der Eurokrise in die Schuhe geschoben worden ist? Wobei die Währungskrise nach dem Verständnis der Protagonisten ja gar keine ist, sondern eine Schuldenkrise. Das erscheint mir ungleich schwieriger und unübersichtlicher als der Austritt Griechenlands und die Folgen für Athen.

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