Griechenland: Juncker ist das Paradebeispiel für die Arroganz der Politik

Unter der Überschrift “Juncker: Griechenland muss Reformzusagen einhalten” berichtet der Deutschlandfunk heute früh:

“EU-Kommissionspräsident Juncker verlangt von Griechenland, seine Reformzusagen einzuhalten. Die dortige Wirtschaft habe mit Hilfe der europäischen Partner bemerkenswerte Fortschritte gemacht, sagte Juncker der Nachrichtenagentur Reuters. Deshalb sei Europa auch künftig bereit, dem Land zur Seite zu stehen. Allerdings müsse jede künftige Regierung die Vereinbarungen mit den internationalen Geldgebern fortsetzen. Verträge seien einzuhalten, betonte Juncker. – In Griechenland wird am kommenden Sonntag ein neues Parlament gewählt. In Umfragen liegt die linksgerichtete Syriza-Partei vorn, die Griechenland zwar in der Eurozone halten will, die Reformauflagen aber ablehnt.”

Ein Blick auf die Seite 1 der offiziellen Internetpräsenz des griechischen Amts für Statistik könnte Juncker, der mit seiner Meinung ja nur stellvertretend für die Regierenden in Europa steht, eines Besseren belehren. Hier ein Screenshot von heute früh:

Zur Vergrößerung auf Screenshot klicken.

Griechenland steckt tief in der Deflation. Das in den deutschen Medien allseits gefeierte reale Wachstum von 0,7 Prozent, ist nicht nur völlig ungeeignet, um die historisch hohe und sozial wie politisch unerträgliche Arbeitslosigkeit spürbar zu senken, sondern vor allem Ausdruck dieser Deflation. Wir haben dies bereits in einem im Abonnement am 14. November 2014, unmittelbar nach Veröffentlichung der aktuellsten Daten zur Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung erschienenen Beitrag empirisch nachgewiesen und mit Graphiken veranschaulicht. Hier ein Fazit aus der damaligen Analyse:

“…In der Deflation ist folglich das reale Wirtschaftswachstum nicht länger ein verlässlicher Gradmesser für die Entwicklung der Wirtschaft. Im Gegenteil, das reale Wirtschaftswachstum kann dann über die wirkliche Entwicklung hinwegtäuschen.

Besonders markant zeigt dies die Entwicklung im zweiten Quartal: Hier war das reale Wachstum leicht positiv (0,4%), das nominale Wachstum aber tief im Minus (-4%). Und auch im dritten Quartal ist das reale Wachstum der Wirtschaft vor allem Ergebnis der negativen Preisentwicklung: Das reale BIP stieg um 1,7 Prozent gegenüber Vorjahr, das nominale aber lediglich um 0,7 Prozent. Der so genannte BIP-Deflator, der die Preisentwicklung für die Gesamtwirtschaft abbilden soll und sich aus dem Verhältnis von nominalem BIP zu realem BIP ergibt entwickelt sich also negativ. Im zweiten Quartal betrug seine Zuwachsrate -4,4 Prozent, im dritten Quartal -1 Prozent. Der BIP-Deflator ist seit dem vierten Quartal 2012 negativ, die jährliche Veränderungsrate des Harmonisierten Verbraucherpreisindexes, der den standardisierten Warenkorb aus Konsumgütern abbildet, ist seit März 2013 negativ…”

Juncker wähnt die “bemerkenswerten Fortschritte” freilich nicht an der buchstäblich realen, also wirklichen Wirtschaftsentwicklung, sondern an einem klitzekleinen irrealen staatlichen Haushaltsüberschuss – ohne Berücksichtigung der Zinszahlungen, die Griechenland für eine weiter steigende Schuldenlast aufbringen muss. Die Schuldenlast aber steigt vor allem weiter (Schulden in Relation zur Wirtschaftsleistung, auch Schuldenstandsquote genannt), weil der Nenner, die Wirtschaftsleistung, von den von Juncker einmal mehr geforderten “Reformanstrengungen” belastet wird (siehe in diesem Kontext auch zum immer wieder geforderten Schuldenschnitt den bereits im Juni 2013 erschienenen Beitrag und die darin enthaltene Graphik). Die geringe Wirtschaftsleistung ist nachweislich auch Ursache für die hohe Arbeitslosigkeit. Auch das haben wir schon häufiger, nicht nur für Griechenland nachgewiesen (siehe zuletzt ausführlich hier).

Vor diesem Hintergrund ist es schließlich einmal mehr verwunderlich, dass auch die wenigen JournalistInnen und ÖkonomInnen, die jenen wirtschaftspolitischen Kurs zumindest hinterfragen, Juncker so konsequent falsch einschätzen oder auch noch positiv bewerten. Wir haben dies bereits häufiger kritisch analysiert (siehe zuletzt hier). Abschließend auch aus diesem, ebenfalls im Abonnement erschienenen Beitrag ein Zitat:

“Juncker hat gestern anlässlich der Wahl des EU-Kommissions-Präsidenten seine ´Politische Leitlinien für die nächste Europäische Kommission´ vorgestellt und diese überschrieben mit: ´Ein neuer Start für Europa: Meine Agenda für Jobs, Wachstum, Fairness und demokratischen Wandel´. Schon der erste Absatz aber offenbart eine erschreckende Ignoranz gegenüber den zu bewältigenden Problemen, die sich in der Europäischen Währungsunion (EWU) und damit auch in der EU-28 stellen, und der diesen zugrundeliegenden Politik. Die hat Juncker in leitender Funktion – zwischen 2005 und 2013 war er Vorsitzender der Euro-Gruppe – maßgeblich mit zu verantworten.

Hier seine einleitenden Sätze, die jedem Menschen, der auch nur ein Gespür für die Entwicklung und Situation der vergangenen Jahre seit Ausbruch der Finanz- und Eurokrise hat, die Haare zu Berge stehen lassen müssen:

´Die EU-Organe und die nationalen Regierungen mussten beispiellose Maßnahmen ergreifen, um die Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten zu stabilisieren, die Staatshaushalte zu konsolidieren und zu verhindern, dass die Errungenschaften von Jahrzehnten europäischer Integration zunichte gemacht werden. Das Schlimmste konnte verhindert werden. Der Binnenmarkt und die Integrität des Euro-Währungsraums konnten gewahrt werden. Langsam, aber stetig gewinnt Europa wirtschaftlich wieder an Fahrt und an Vertrauen.´

Gründlicher kann man Europa nicht missverstehen. Gründlicher kann man sich als Kandidat und nunmehr gewählter EU-Kommissionspräsident nicht disqualifizieren. Denn…”

In Europa nichts Neues.

Wirtschaft und Gesellschaft – Analyse & Meinung finanziert sich ausschließlich über Abonnements und Spenden. Noch sind diese nicht Existenz sichernd. Guter Journalismus muss bezahlt werden, um zu überleben. Deswegen:

Abonnieren Sie Wirtschaft und Gesellschaft – Analyse & Meinung oder spenden Sie bitte an:




————————————————————-

Sie können helfen, unseren Leserkreis zu erweitern!

Wirtschaft und Gesellschaft hat jetzt auch eine und freut sich über jedes “Gefällt mir”.

————————————————————-


Dieser Text ist mir etwas wert


Verwandte Artikel: