Statistik des Tages, Griechenland: Ist das “fair”, Herr Gabriel?

“Was immer die griechische Regierung an den zwischen den europäischen Mitgliedstaaten, der Europäischen Kommission und Griechenland vereinbarten Maßnahmen, Programmen und Reformen ändern will, sie muss die Konsequenzen dieser Änderungen im eigenen Land bewältigen und darf sie nicht auf die Bürgerinnen und Bürger anderer Länder abwälzen. Darum geht es in der Debatte.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Denn Europa lebt von Berechenbarkeit und Kooperationsbereitschaft, allerdings auch von gegenseitiger Fairness.”

Zitat, Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und Energie und Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland, heute in seiner Regierungserklärung im Deutschen Bundestag. Wer aber wälzt tatsächlich rückblickend auf den Zeitraum seit Beginn der Europäischen Währungsunion (EWU) und gegen einmal getroffene Vereinbarungen wie das Inflationsziel der Europäischen Zentralbank (EZB) verstoßend die Konsequenzen seiner Maßnahmen, Programme und “Reformen” auf andere Länder, auch auf Griechenland ab? Die Antwort lautet: Deutschland. Das zeigt die Entwicklung des deutschen Leistungsbilanzsaldos mit der EWU und auch mit Griechenland. Beides weist die Deutsche Bundesbank in langen Zeitreihen aus. In dem Ausmaß, in dem Deutschland einen positiven Leistungsbilanzsaldo erzielt, müssen sich die betroffenen Länder entsprechend gegenüber Deutschland verschulden. Sie kaufen dann nämlich mehr Waren und Dienstleistungen aus Deutschland ein, als sie nach Deutschland verkaufen können. Warum aber haben die anderen Länder der EWU zwischen 1999 und 2014 per Saldo für rund 794 Mrd. Euro weniger Waren und Dienstleistungen an Deutschland verkauft, als von Deutschland gekauft? Es kann gar kein Zweifel daran bestehen, dass dafür die Politik, die Maßnahmen, Programme und “Reformen”, mit verantwortlich zeichnen, die Gabriel gestern und heute gerade noch einmal als “Grundlage für die gute wirtschaftliche Entwicklung” in Deutschland benannt hat: die Agenda 2010. Gabriel hat es ja gestern – freilich ohne dies in Beziehung zur Agenda 2010 zu setzen – selbst eingeräumt (siehe dazu hier). Über den Druck auf Löhne und soziale Leistungen hat die Agenda 2010 dafür gesorgt, dass Deutschland gegenüber seinen Handelspartnern in der EWU unfaire preisliche Wettbewerbsvorteile erzielt hat. Das zeigt besonders die Entwicklung gegenüber Frankreich, das sich geradezu penibel an das Inflationsziel der EZB von “unter, aber nahe zwei Prozent” gehalten hat (siehe dazu zuletzt hier). WuG hat dies an anderer Stelle immer wieder nachgezeichnet und erklärt. Nach 2003, seit der Agenda 2010, sind die Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands mit der EWU, sichtbar gestiegen, wie die erste Graphik unten veranschaulicht. Mit der Umsetzung von Hartz IV 2005 scheinen sie noch einmal einen zusätzlichen Sprung gemacht zu haben. Erst mit Ausbruch der Finanz- und Eurokrise 2008/2009 waren die Überschüsse wieder rückläufig sind aber bis heute sehr hoch geblieben. Sie sollen, laut Projektion der Bundesregierung, im laufenden Jahr erneut steigen, wie aus dem Jahreswirtschaftsbericht hervorgeht, den Gabriel gestern in der Bundespressekonferenz vorstellte (siehe dazu auch ausführlich hier). Seit dem vierten Quartal 2004 hat Deutschland ohne Unterbrechung hohe Leistungsbilanzüberschüsse innerhalb der EWU erzielt. Die anderen Länder der EWU mussten sich in gleicher Höhe gegenüber Deutschland verschulden.

Die Konsequenzen dieser Politik aber sollen, wenn es nach Gabriel und der Bundesregierung geht, nun ausschließlich die anderen tragen. Sie tun dies auch schon. Seit langem. Unter anderem, indem sie über viele Jahre weniger an Deutschland verkaufen konnten, als sie umgekehrt von dort kauften, weil die schlechte deutsche Lohnentwicklung nicht nur die Preise unter das Inflationsziel der EZB drückte, sondern auch die deutsche Binnennachfrage schwächte. Sie tun dies darüber hinaus in extremer Form seit der so genannten “Rettungspolitik”, die im Frühjahr 2011 begann, indem sie Staatsausgaben und Löhne senkten und Arbeitnehemrrechte schleiften, so wie Deutschland es ihnen mit der Agenda 2010 vorgemacht und auch, vermittelt über den Druck der EU-Kommission, vorgegeben hat. Griechenlands Preisniveau aber liegt, gemessen an den Verbraucherpreisen, die die EZB zum Maßstab ihres Inflationsziels gemacht hat, trotz dieser verheerenden Rosskur immer noch, ausgehend von der Entwicklung seit 1999, um rund 20 Prozent über dem deutschen. Dafür ist Griechenland auch mit verantwortlich, weil es das Inflationsziel der EZB unter umgekehrten Vorzeichen nach oben durchbrochen hat, aber es ist eben nicht allein verantwortlich.

Und selbst unter der drakonischen Austeritätspolitik zwischen 2011 und 2014 hat Deutschland für 4,2 Mrd. Euro mehr Waren und Dienstleistungen an Griechenland verkauft, als von dort bezogen, Griechenland also gezwungen, sich weiter zu verschulden, und darüber Deutschlands Ersparnisse entsprechend erhöht. In der EWU insgesamt waren es zwischen 2011 und 2014 rund 213 Mrd. Euro. Ist das “fair”, Herr Gabriel?

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