Die Elite in Europa fühlt sich wohl – und glaubt tatsächlich, sie sei Europa: “Franzosen, Griechen, Deutsche – wir alle sind in Wahrheit längst beides: Bürger unserer Staaten und Bürger Europas. Wir fühlen uns wohl in unserer doppelten Haut.” So Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Rede anlässlisch der Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen. Ich zumindest kann das nicht bestätigen. Ich kann mich bei Arbeitslosenquoten von bis zu dreißig Prozent in Europa nicht wohlfühlen. Im Gegenteil, sie bereiten mir nicht zuletzt aufgrund der Geschichte Deutschlands – auf die ja auch der Bundespräsident so gern abstellt – äußerstes Unbehagen. Wirtschaftliche Depression, Deflation und Arbeitslosigkeit waren es, die in Deutschland die materielle Grundlage für den Faschismus legten. Wirtschaftliche Depression, Deflation und Arbeitslosigkeit spielen in der Rede des Bundespräsidenten aber keine Rolle. Für die Franzosen, Griechen, Deutschen, Spanier, Portugiesen, denen ich auf meiner gegenwärtigen Reise durch den Süden Europas zu Fuß, trampend und mit dem Zug bisher begegnet bin, dagegen schon. Deren Aussagen widersprechen auch dieser mehr als gewagten, ja angesichts der buchstäblich herrschenden Verhältnisse geradezu irrsinnig erscheinenden These des Bundespräsidenten:
“Aber 25 Jahre nach der Wiedervereinigung ist sonnenklar: Nie war Deutschland europäischer als heute, es ist ein zuverlässiger Stabilitätsanker geworden.”
Zum Glück haben die Menschen, denen ich bisher begegnete, ein differenzierteres Bild von “Deutschland”, als der deutsche Bundespräsident: Sie können zwischen deutschen Politikern und den von ihnen regierten Deutschen unterscheiden. Und sie tun dies ganz explizit. Allerdings zeigt dies zugleich, wie schmal der Grad der Wahrnehmung bereits ist. Denn sonst müsste dies ja nicht bereits explizit ausgesprochen werden. Die verheerende Rolle der deutschen Politik, die nur als antieuropäisch eingestuft werden kann, sobald man sie nüchtern analysiert, aber ist den Menschen bewusst. Und das, obwohl es um Politik und Medien in diesen Ländern auch nicht gut, sondern teils katastrophal bestellt ist. Um so weiter ich in den Süden Europas gelange, umso deutlicher zeichnet sich dieses Bild ab. Das ist kein Zufall: Denn dort hat die deutsche Ideologie der “Wettbewerbsfähigkeit” und die zu deren Verwirklichung oktroyierte Versklavung ganzer Volkswirtschaften die größten Verwerfungen nach sich gezogen. Portugal werde von Merkel regiert, nicht von der portugiesischen Regierung. Eine gängige Aussage unter PortugiesInnen, die mir begegneten. Gleichzeitig habe ich noch keine portugiesische Stimme vernommen, die die eigene Regierung ungeschoren davonkommen ließe. So auch in Frankreich und Spanien. Erst gestern erklärte mir ein Portugiese, nachdem er die deutsche Politik fundamental kritisiert hatte: das andere Problem sei doch, dass die anderen Regierungen – die Portugals, Spaniens, Italiens und Frankreichs – nicht Nein sagten zur deutschen Politik. Immer wieder bin ich positiv überrascht, mit welcher Klarheit die Menschen die Probleme ansprechen und zu begreifen suchen. Sie verschonen dabei auch sich selbst, die eigenen Bevölkerungen und die eigenen Medien nicht mit Kritik, bzw. unterziehen sie sie einer kritischen Betrachtung, die unter anderem die Frage aufwirft und zu beantworten sucht, warum die Menschen sich denn nicht stärker gegen die katastrophalen, unmenschlichen Folgen der Politik, die Schulz und Gauck in ihren Reden so salbungsvoll beweihräuchern, wehren. Wenn Deutschland, vertreten durch die gegenwärtige Bundesregierung und deren Vorgänger, seit Bestehen der Europäischen Währungsunion eines nicht ist, dann das: “ein verlässlicher Anwalt des europäischen Einigungsprozesses”. Indem Gauck “Deutschland” diese Rolle dennoch zuweist, zeigt er nur, wie weit er von den realen Verhältnissen in Europa entfernt ist, unter denen die Menschen aufgrund der politischen Vorgaben aus Deutschland und korrupten, menschenfeindlichen Regierungen, die diese in Frankreich, Italien, Spanien, Portugal und Griechenland umsetzen, leben müssen. Er ist also – wie Schulz – entweder ein ausgemachter Dummkopf oder Zyniker der Macht.
Das wird auch in diesen Sätzen Gaucks besonders deutlich:
“Sie werden sich fragen: Was ist zu tun? Lassen Sie mich zunächst einen Moment dabei verweilen, was schon getan wurde. Und das ist nicht wenig. Denn Reformen – weitreichende Reformen! – sind längst eingeleitet. Die Union wird demokratischer, weil die Rechte des Europäischen Parlaments ebenso gestärkt sind wie das Initiativrecht der Bürger. Diverse Mitgliedstaaten ordnen ihre Haushalte neu, sie modernisieren Wirtschaft und Verwaltung. Die Eurozone wappnet sich durch neue Regeln gegen künftige Finanz- und Schuldenkrisen. Europaweit erholt sich die Wirtschaft.”
Wenn die Europäische Union unter der Ägide der “Wettbewerbsfähigkeit” eines nicht geworden ist, dann “demokratischer”. “Die Rechte des Europäischen Parlaments” mögen gestärkt worden sein. Was hilft das aber der Demokratie, wenn das Europäische Parlament die Gesetze verabschiedet, die die Menschen millionenfach entrechten und verarmen? Und wie kann man nur die brutalen Ausgabenkürzungen, denen die nationalen Regierungen unter deutscher Vorherrschaft in ihren Haushalten vorgenommen haben, mit dem Worten “ordnen ihre Haushalte neu” verharmlosen? Und wie kann man nur ernsthaft behaupten: “Europaweit erholt sich die Wirtschaft.” Nur ein ausgemachter Dummkopf oder ein ausgemachter Zyniker der Macht kann all dies tun. Es macht ihn zugleich zum ausgemachten Anti-Demokraten und Anti-Europäer. Nur weil die Reden von Schulz und Gauck das so deutlich ausdrücken, verdienen sie das Prädikat besonders wertvoll, ja, historisch.
Wie Schulz begreift auch Gauck nicht die Ursachen dafür, dass der Nationalismus politisch wieder attraktiv wird. Gauck:
“Aus der Geschichte wissen wir, wie schwer es Bewohnern von Kleinstaaten einst gefallen ist, sich fortan als Bürger eines größeren und gemeinsamen Ganzen zu verstehen. So ähnlich ist es heute auch in Europa. Es stellen sich bisweilen Fremdheitsgefühle ein. Hinzu tritt bei manchen das Gefühl der Entgrenzung durch Globalisierung. So wird die Rückwendung zum nationalen Denken erklärlich, auch wenn wir glaubten, längst gelernt zu haben, dass wir als Europäer im Weltmaßstab nur als größere Gemeinschaft handlungsfähig und wettbewerbsfähig werden.”
Auch hier sind die Aussagen vieler Menschen, die mir auf meiner Reise durch den Süden Europas bisher begegneten, aufschlussreich: Sie fühlen sich ganz gewiss nicht “entgrenzt” durch “Globalisierung”. Viele begreifen sich im Gegenteil zugleich als EuropäerInnen und WeltbürgerInnen. Nein, sie fühlen sich völlig zurecht eingegrenzt und ausgegrenzt zugleich, ohnmächtig gegenüber der Politik, die Schulz und Gauck predigen. Es sind schamlose Politiker wie Schulz und Gauck, die die Menschen wieder in die Fänge von Nationalisten treiben, die den Austritt aus dem Euro und der Europäischen Union wieder zur Alternative machen. Dass Schulz und Gauck wie die versammelte politische Elite das nicht begreifen, nicht einmal im Ansatz erkennen, setzt eine Verblendung voraus, die an die Heilige Inquisition erinnert. Wie letztere spricht sich auch die heute herrschende Elite selbst heilig. Das machen die Reden von Schulz und Gauck und der Beifall, der ihnen dafür in Politik und Medien gespendet wird, auf so unmissverständliche wie erschreckende Art und Weise deutlich. Die Zerstörung Europas hat Namen. Es sind die Namen von Politikern, die demokratisch gewählt worden sind, die aber die Grundlagen der Demokratie zerstören und damit antidemokratischen Kräften wieder Zulauf bescheren.
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