Gastbeitrag in “Die Welt”: Gabriel und Macron haben das drängenste Problem der Währungsunion offensichtlich nicht verstanden

Die Wirtschaftsminister der zwei größten Volkswirtschaften in der Europäischen Währungsunion (EWU) haben in der Zeitung “Die Welt” einen gemeinsamen Gastbeitrag veröffentlicht. Er zeigt, dass die beiden die Dramatik der Entwicklung in der EWU und den damit verbundenen wirtschaftspolitischen Handlungsbedarf bis heute nicht erkannt haben. Sie verlieren sich in institutionellen Überlegungen und finden so nicht zu dem naheliegensten und gleichzeitig zwingenden Schritt, der zur Überwindung des drängensten Problems der EWU beitragen würde.

Das drängenste Problem ist zweifellos die Massenarbeitslosigkeit. Die Arbeitslosigkeit ist erwiesenermaßen mit der seit 2011 als Antwort auf die Eurokrise ausgeübten Austerität (staatliche Ausgabensenkungen, Lohnsenkungen, Abbau von Arbeitnehmerrechten) in jene historischen Höhen geklettert, in denen sie seitdem nahezu unverändert verharrt. Gabriel ist seit jeher ein glühender Verfechter dieser wirtschaftspolitischen Ausrichtung, die seit der Agenda 2010 auch die Entwicklung in der EWU bestimmt hat. Schon von daher bleibt es Gabriel verwehrt, eine wirtschaftspolitische Kehrtwende zur Rettung des Euro einzuleiten. Er müsste anerkennen, dass es die Konjunktur – und nicht die Struktur – ist, die aus der Krise herausführt. Und er müsste erkennen, dass sein wirtschaftspolitischen Konzept erst zu der Verschärfung der Krise geführt hat, die die Konjunktur in der EWU nunmehr seit mehr als fünf Jahren nahezu stillstehen lässt. Diese Erkenntnis erschließt sich offensichtlich auch dem französischen Wirtschaftsminister nicht. Die französische Regierung folgt neuerdings vielmehr den wirtschaftspolitischen Vorstellungen aus Deutschland. Die Zahl der Arbeitslosen in Frankreich erreicht derweil immer wieder neue Höchststände. Das Wachstum kann unter der von Deutschland und Frankreich verfolgten Politik nicht angemessen hoch ausfallen, um die Arbeitslosigkeit spürbar zu senken, wenn überhaupt. Um die Konjunktur entsprechend zu beleben, wären massive Ausgabensteigerungen vonnöten, sei es durch eine steigende Aktivität des Staates und/oder durch gezielte Lohnsteigerungen. Beides würde – vorausgesetzt jene Aktivität erreicht neben den Unternehmen in der Realwirtschaft auch die Armen und die Durchschnittsverdiener, die jeden zusätzlichen Euro sofort wieder ausgeben – die wirtschaftliche Aktivität unmittelbar beleben. Die zentrale Voraussetzung dafür, die Arbeitslosigkeit zu senken und die Menschen aus ihrer Lethargie und Depression zu befreien, in die sie die wirtschaftspolitischen Vorstellungen von Gabriel und Macron versetzt haben. Gabriel und Macron müssten nur einen Blick über den großen Teich in die USA und in die Reden der amerikanischen Notenbankpräsidentin Janet L. Yellen werfen, die dem Beschäftigungsziel oberste Priorität einräumt, oder dem amerikanischen Arbeitsminister zuhören, der öffentlich für stärkere Lohnsteigerungen plädiert, um die Konjunktur zu stabilisieren und weiter zu beleben.

Gabriel und Macron aber sind wirtschaftspolitische Hinterwäldner. Ihre gestelzte, technokratische Sprache, mit der sie sich in ihrem Beitrag an institutionellen Veränderungen abarbeiten, lässt vermuten, dass sie von alldem nicht wirklich etwas verstanden haben. Wahrscheinlich haben sie ihre Referenten mit dem Schreiben des Beitrags beauftragt und ihn dann lediglich noch einmal abgestimmt. Es sind schlechte Referenten, die ihren Ministern einen schlechten Dienst erwiesen haben, sei es, weil sie es nicht besser wissen oder weil sie sich nicht trauen, ihre Arbeitgeber auf deren Defizite aufmerksam zu machen. Gabriel und Macron gleichen so Kapitänen, die, während ihr Schiff untergeht, auf dem Oberdeck darüber philosophieren, wie sinnvoll es doch wäre, das Schiff unsinkbar zu machen.

Greifen wir nur diesen Absatz aus ihrem Gastbeitrag für “Die Welt” heraus:

“Ein Budget auf der Ebene des Euroraums sollte und braucht nicht zu Lasten der Fiskaldisziplin auf nationaler Ebene umgesetzt werden. Ganz im Gegenteil: Sie sollte durch die Schaffung eines Rechtsrahmens für ordnungsgemäße und rechtmäßige Umstrukturierungen von Staatsschulden gestärkt werden, sofern diese als letztes Mittel notwendig werden sollten. Dadurch würden sowohl die unangemessene Nutzung der Kreditvergabe in Krisenzeiten als auch eine konjunkturpolitisch problematische Kürzungspolitik in den Fällen verhindert, in denen Ländern übermäßige Schulden haben. Gleichzeitig sollte der ESM in das europäische Gemeinschaftsrecht einbezogen und in einen Europäischen Währungsfonds im eigentlichen Sinne umgewandelt werden.”

Hier wollen die beiden offensichtlich die EWU waschen, ohne sich den Pelz nass zu machen. Aber so wird es nicht laufen. Jeder wirksame Schritt muss zunächst zulasten der “Fiskaldisziplin” gehen, die die Krise unter der Verantwortung von Gabriel und Macron überhaupt erst zu der Katastrophe hat werden lassen, die sie heute ist. Und erst das durch Aufgabe der “Fiskaldisziplin” resultierende Wirtschaftswachstum wird nicht nur für steigende Beschäftigung und sinkende Arbeitslosigkeit sorgen, sondern auch für ausgeglichene Staatshaushalte. Gabriel und Macron haben offensichtlich weder den Intellekt, diese grundlegenden Zusammenhänge zu verstehen und in konkrete Politik zu gießen, noch sich entsprechenden Beratern zu öffnen. Gabriel und Macron stehen damit, stellvertretend für die politisch Verantwortlichen auf nationaler und europäischer Ebene, für Stagnation und die mit ihr einhergehende politische Radikalisierung. Nichts spricht dabei gegen die Diskussion, ein weiteres institutionelles Zusammenwachsen der EWU und die Übertragung von nationaler Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik auf europäische Ebene zu fördern. Nur haben all diese Überlegungen keine Chance auf Realisierung, wenn nicht kurzfristig und nachhaltig die Konjunktur belebt wird.

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