Politisches Vakuum: Tsipras Missachtung des Referendums hat nicht nur negative ökonomische Folgen

Die Vereinbarung, die Tsipras mit den internationalen Gläubigern getroffen hat und jetzt durch das Parlament boxt, zeitigt höchstwahrscheinlich nicht nur negative ökonomische Folgen. Die vereinbarten Maßnahmen stehen in krassem Widerspruch zum Referendum, das Tsipras vor den Verhandlungen initiiert hat (siehe zu beidem zuletzt hier). Dieser radikale Vertrauensbruch wiegt besonders schwer, weil er all die Millionen GriechInnen, die das Referendum noch einmal politisch aktiviert hat, schwer enttäuschen muss. Viele von ihnen hatten noch einmal Hoffnung geschöpft. Viele von ihnen hat das Referendum noch einmal aus der Lethargie gerissen, in die sie die nunmehr über sechs Jahre währende Austerität und die mit ihr verbundene Aussichtslosigeit gestoßen hat. Umso so tiefer wird bei vielen der Rückfall sein, den Tsipras mit seinem Wahlbetrug ausgelöst hat. Man fragt sich, wo der Aufschrei der Linken darüber bleibt, in Deutschland, in Spanien, in Frankreich zum Beispiel. Sie ziehen sich allein darauf zurück, dass Griechenland von der internationalen Gläubigergemeinschaft, allen voran Deutschland, erpresst worden ist. Auch wir haben dies gleich nach der Bekanntgabe des Ergebnisses – und zuvor bereits – analysiert und verurteilt. Doch wie kommen die Linken, die sonst immer das TINA (There Is No Alternative)-Prinzip der Konservativen verurteilen, nur darauf, dass es diesmal keine Alternative gegeben hätte?

Hier messen die Linken offensichtlich mit zweierlei Maß. Was im übrigen ein langes Vorspiel hat. Auf die aktuelle Krise bezogen hat sich dies bereits in der unreflektierten und im Ergebnis unkritischen Berichterstattung über die griechische Regierung und ihre inhaltliche Verhandlungsposition seit Amtsantritt, aber auch über andere aufkeimende linke Bewegungen, wie Podemos in Spanien, gezeigt. WuG hat dies immer wieder thematisiert. Doch bleiben wir beim aktuellen Fall: Zu einer erfolgreichen Erpressung gehören immer zwei. Die eine Seite ist in diesem Fall vor allem präsentiert durch das brutale Machtgehabe der Deutschen, allen voran Schäubles, aber auch durch das hohle Agieren tonangebender Europa-Politiker wie Juncker und Schulz. Die andere Seite wird präsentiert von Tsipras und seinen Gefolgsleuten, die ihr Volk betrogen haben, betrügen mussten, weil sie bis heute keinen Plan B ausgearbeitet haben. Vor dieser Entscheidung hat auch der nicht mehr amtierende Finanzminister Varoufakis eine besonders negative Rolle gespielt, in meinen Augen weniger durch sein Auftreten, das aber auch nicht zum besseren Verständnis der Verhandlungspartner beigetragen haben dürfte, als vielmehr wegen der Beliebigkeit und der ihr innewohnenden Schwankungen in der Argumentation, die auch nicht vor Lobhudeleien gegenüber Schäuble als “einzigen Europäer mit intellektueller Substanz” halt machten. WuG hat Varoufakis deswegen schon früh attestiert, ein Opfer seiner eigenen Spieltheorie zu sein. Auch hier hat sich die linke oder alternative Presse viel zu unreflektiert und unkritisch verhalten, was zeigt, dass sie im Kern nicht besser funktioniert, als die konservative Presse, denen sie genau jene Einseitigkeit zum Vorwurf macht. Sie hat sich aber nicht weniger einseitig auf ihre Seite geschlagen, als die Konservativen auf die ihre. Linker Populismus und linke Voreingenommenheit und Heldenverehrung waren noch nie konstruktiver und im Ergebnis besser als ihr rechtes Pendant. Bei all dem muss die Analyse auf der Strecke bleiben.

Das Loch, das Tsipras mit seinem Wahlbetrug in der griechischen Bevölkerung hinterlässt, ist meines Erachtens gar nicht zu überschätzen. Um dies zu unterstreichen, lohnt es sich auf die Demonstrationen vor dem Referendum zurückzublicken. Anders als es selbst vermeintliche Griechenland-Experten nach Bekanntgabe des Referendums meinten, war das Ergebnis des Referendums nicht “überraschend”. Ich habe dies am Vorabend des Referendums wie folgt begründet:

“WuG on the way through southern Europe: On my way to Syntagma in the late afternoon I thought already: perhaps all the influence of the media is heavily overrated. People have their own thoughts, and the crisis is too deep to change them even with a heavy manipulation of the media. Finally the media is misguiding itself. And so I suppose: It will be a clear “No” on Sunday. After the demonstration now in front of the parliament building I am convinced: it will be a clear “No” on Sunday. Though, of course, I cannot be at two places at the same time. So I don´t know, how many people have been at the “Yes”-demonstration. But I have been there on the “Yes”-demonstration on the 30th June in front of the parliament building (see here: ). It was not very convincing, neither the quantity nor the quality of the demonstration. But both demonstrations of the “No”-movement were convincing, not only because they were really crowded, but also because of the atmosphere, the whole culture! The people have been fantastic. What a potential to move on in this country and to move on this country! Latest on Monday I think we know whether my estimation is right or wrong.”

(Quelle: ; siehe auch das dazu eingestellte Video)

Sieht man sich die Videos an (siehe auch die Videos , und ), mit denen ich versucht habe, die Stimmung auf dem Syntagma einzufangen, sieht man Menschen aus allen Generationen, es herrschte Aufbruchstimmung, mir schienen die Anwesenden auch keine spezielle Klientel zu präsentieren, die man vielleicht in links oder rechts einordnen könnte, sondern die ganze Bandbreite der griechischen Bevölkerung. Das hat das Ergebnis des Referendums, das in allen Regionen Griechenlands eindeutig ausgefallen ist, ja bestätigt. Und es war die schiere Masse der Menschen, die nicht nur mich überwältigt hat, sondern auch den alten Ökonomen und seit seiner frühen Jugend in Demonstrationen geübten Griechen, der mich als Wanderer in Athen von der Straße aufgelesen und in seinem Haus einquartiert hat. Einen solchen Andrang habe er zu seinen Lebzeiten noch nicht erlebt. Und tatsächlich schallte es ja ständig durch die Lautsprecher, dass die Menschen aus der U-Bahn-Station vorangehen sollten, damit auch die hinter ihnen ankommenden herausfinden könnten. Die Straßenzüge rund um den Syntagma waren ausgefüllt mit Menschen so weit man blicken konnte. Es herrschte bei allem Ernst, den die Menschen mit zu dieser Demonstration brachten, eine ausgelassene Stimmung, die jedem Dogmatismus Lügen straft, den auch deutsche Journalisten, ja sogar “Wissenschaftler” wie Straubhaar, den Demonstrierenden vom sicheren Schreibtisch in Deutschland aus anzudichten versuchten.

Was mögen all diese Menschen jetzt empfinden, nachdem Tsipras sie um ihr Abstimmungsergebnis, das er selbst eingefordert hat, gebracht hat? Vielleicht geben die Kommentare unter seinen Twitter-Einträgen, wie diejenigen unter seinem zu seiner Rede gestern, schon ein Gefühl dafür: nicht wenige bezeichnen ihn als Verräter. Das wiederum muss man nicht als angemessen betrachten oder auch als repräsentativ. Viel besorgniserregender ist vielleicht die Gefahr der Leere, die sein politisches Handeln nach sich gezogen hat oder noch nach sich ziehen könnte: ein politisches Vakuum, das am Ende durch radikalere Kräfte von rechts oder durch das Militär oder eben durch die alten politischen Kräfte, die, neben der von außen oktroyierten Austerität, für die Katastrophe in Griechenland die eigentliche Verantwortung tragen, ausgefüllt wird.

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