Griechisches Wirtschaftswachstum: Weitere Kuriositäten aus dem Kabinett deutscher Medien

English Summary: Just two days ago we published an article on the precarious condition of German journalism using the reporting on Greece´s growth in the second quarter 2015 as an example. Here we present some more oddities on the same topic by German journalists showing a world of surrealism rather than journalism.

Wenn die griechischen Wachstumszahlen für etwas gut sind, dann, um den Wirtschaftsjournalismus in den deutschen “Qualitäts-Medien” einmal mehr vorzuführen. Ein Kuriositätenkabinett.

Den größten Vogel hat vielleicht wieder einmal “Die Welt” abgeschossen. “Griechische Wirtschaft wächst stärker als deutsche”, hat Tobias Kaiser seinen Artikel überschrieben. Als Wirtschaftsredakteur. Im Untertitel heißt es zwar immerhin vielversprechend: “Selbst Griechenland wächst deutlich – doch für diesen Sprung gibt es eine ganz andere Erklärung als in Spanien oder Irland.” Würde Kaiser also tatsächlich erkannt haben, dass die positive Zuwachsrate des realen Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal – und nicht nur im zweiten Quartal – lediglich fallenden Preisen (Deflation) geschuldet ist, das nominale Wachstum also negativ war (siehe hierzu zuletzt hier)? Weit gefehlt! Wie Yannis Koutsomitis, der nicht nur für “Die Zeit” schreibt, sondern sogar als “Wirtschaftsexperte” gilt und sich selbst als “Eurozonen-Analyst” einstuft (siehe dazu ), nimmt Kaiser das reale Wirtschaftswachstum tatsächlich für bare Münze. Auch diese Münze aber verliert mit der Deflation ihren Wert, in diesem Fall ihre Aussagekraft. Völlig zurecht entgegnet der spanische Wirtschaftswissenschaftler José Carlos Díez auf den tweet von Koutsomitis: “”

Bei Kaiser kommt jedoch noch die Kuriosität hinzu, dass er – als würde er das nicht nur in der “Welt”, sondern beispielsweise auch im Deutschlandfunk und anderen Medien allseits gebräuchliche Muster eines vermeintlich seriösen Finanz- und Wirtschafts-Journalismus persiflieren wollen – Bank-Volkswirte zitiert, um sein hanebüchenes Wirtschaftsverständnis zu stützen. Mit Erfolg.

“Unter Beobachtern gibt es zwar durchaus Skepsis an der Verlässlichkeit der Zahlen aus Athen, aber Ökonomen finden gute Gründe dafür, dass die griechische Wirtschaft tatsächlich einen starken Wachstumssprung gemacht hat. Mario Grupe, Volkswirt bei der NordLB vermutet beispielsweise, dass viele Griechen aus Angst vor einem Ausstieg aus der Euro-Zone (Grexit) und der Wiedereinführung der Drachme noch schnell große Anschaffungen getätigt haben.”

Köstlich! Denn selbst wenn man dieser Annahme folgt, die nach jahrelangen Einkommenskürzungen und Massenentlassungen durchaus fragwürdig ist: Wie kann dann, noch dazu bei einem “starken Wachstumssprung”, das nominale Wachstum negativ ausfallen? Wie kann es sein, dass dann nicht auch die Preise in die Höhe schießen bzw. überhaupt wieder im positiven Bereich landen? Peinlich, peinlich Herr Grupe. Peinlich, peinlich, Herr Kaiser.

Peinlich auch der Chefvolkswirt der INGDiBa, Carsten Brzeski, den Kaiser ebenfalls zitiert:

“Die Entwicklung an der Peripherie der Euro-Zone wird Deutschland politisch helfen´, sagt Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING-Diba, der zuvor lange Zeit in Brüssel gearbeitet hat. ´Das Wachstum in den Krisenländern liefert Berlin neue Belege dafür, dass die Rezepte gegen die Krise funktionieren und dass die Reformen durchgezogen werden müssen, um die Länder wieder auf den richtigen Kurs zu bringen.”

Wann haben Brzeski und Kaiser zuletzt in die Handels- und Leistungsbilanzen Griechenlands, Portugals, Spaniens, Italiens und Frankreichs mit Deutschland geschaut? Die bilden schließlich den politischen Zündstoff, aus dem unfairer Wettbewerb und mangelnde Binnennachfrage auf Basis nicht verteilungsneutraler Lohnentwicklung sind (siehe zuletzt hier, hier, hier). Und kann es ein “Beleg” dafür sein, “dass die Rezepte gegen die Krise funktionieren”, wenn diese Rezepte erst dazu führen, dass die davon betroffenen Volkswirtschaften in einen tiefen Abgrund gestürzt werden, wie ihn beispielsweise die Graphik des portugiesischen Amts für Statistik in seiner Schnellmeldung zum Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal für den Zeitraum 2011 bis 2013 darstellt – nur, um dann wieder in Trippelschritten aus dem Tal hinauszustolpern (siehe hier)? Natürlich nicht.

Zur Vergrößerung auf Graphik klicken.

Wer so ohne Kleider dasteht, wie Tobias Kaiser in der “Welt”, für den ist es dann nur folgerichtig, nicht die jahrelange Austerität (das Senken von Staatsausgaben und Löhnen, Massenentlassungen und der Abbau von Arbeitnehmerrechten) für die wirtschaftliche Misere Griechenlands verantwortlich zu erklären, sondern die jüngst, nicht zuletzt aus dieser Not heraus eingeführten Kapitalverkehrskontrollen. Das ist kein Journalismus, das ist Surrealismus. Aber die Welt-Leser und die sie fütternden Schreibtischtäter scheinen sich pudelwohl damit zu fühlen, in ihrer Traumwelt.

24.08.2015: Siehe hierzu jetzt auch den kritischen Leserbrief von Carsten Brzeski vom 24.08.2015.

25.08.2015: Siehe hierzu jetzt auch die Kritik am Leserbrief Carsten Brzeskis in einem weiteren Leserbrief vom 25.08.2015.

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