English Summary: Yesterday the German Federal Minister of Labour and Social Affairs, Andrea Nahles (Social Democratic Party of Germany, SPD), gave the German public broadcasting radio station Deutschlandfunk a comprehensive interview on the situation of refugees and their possible integration into the labour market. Whereas the aim to integrate refugees into the labour market is seen as essential if not existential, the approach of the minister reveals how she misunderstands the labour market and the people confronted with unemployment – adding grist to the mill of xenophobia and its instrumentalisation by right wing parties and groups.
Andrea Nahles (SPD) ist Bundesministerin für Arbeit und Soziales. Am Wochenende hat sie sich ausführlich zum Umgang der Regierung mit Flüchtlingen geäußert. Sie strebt an, “legale Zugänge zum Arbeitsmarkt zu legen”, um das Asylverfahren zu entlasten. Dieser Sicht ist grundsätzlich zuzustimmen, wie wir in unseren Analysen zur Problematik bereits festgestellt haben. Die dann aber von Nahles getroffene Einschätzung des Arbeitsmarkts zeigt – leider nicht zum ersten Mal -, dass die Bundesarbeitsministerin den Arbeitsmarkt nicht versteht. Im Kontext der Spannungen rund um die Flüchtlinge ist dies noch kritischer zu bewerten, als ohnehin schon mit alleinigem Blick auf die bestehenden Verhältnisse am Arbeitsmarkt.
Am 10. September haben wir im Rahmen einer Analyse der Rede Junckers “zur Lage der Union 2015″ festgehalten:
“Warum aber auch die Flüchtlingsfrage nur im Rahmen der Überwindung der Massenarbeitslosigkeit gelöst werden kann, liegt auf der Hand: die Menschen, die wir jetzt aufnehmen, müssen, wollen wir ihnen eine Perspektive bieten, Arbeit finden. Es ist nicht absehbar, wann die Kriege, die zerfallenden Staaten, die wirtschaftlichen und sozialen Katastrophen, die die Menschen in die Flucht treiben, sich wieder zum Positiven wenden werden. Sicher, dann werden einige zurückkehren wollen. Viele aber werden bleiben. Ihnen muss die EU, ihnen müssen die einzelnen Staaten, die sie jetzt beheimaten, eine Lebensperspektive bieten. Diese gründet grundsätzlich immer auf einer Beschäftigung, die dazu geeignet ist, den Lebensunterhalt zu verdienen. Wie das zu bewerkstelligen ist, darüber verliert Juncker kein Wort. Wie auch, wenn er schon den Ursachen für die seit Jahren währende Massenarbeitslosigkeit in der EWU nicht auf den Grund geht…Wer den Flüchtlingen helfen will, muss für ein angemessenes Wirtschaftswachstum sorgen. Hier sitzen die jetzt schon Arbeitslosen und die Flüchtlinge in einem Boot. Juncker lässt hierfür jedes Konzept vermissen, eine angemessene Analyse ist nicht im Ansatz zu erkennen. Im Gegenteil, Juncker hat das Thema komplett verfehlt.”
Dieser Befund gilt leider auch für die deutsche Arbeitsministerin, wenn sie sagt:
“Nun, wir können mehr tun als andere, weil wir in jeder Beziehung gut aufgestellt sind. Wir haben 600.000 offene Stellen – so viele hatten wir in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie –, wir brauchen Fachkräfte.”
Was sie nicht sagt ist, dass diesen rund 600.000 offenen Stellen (Arbeitsnachfrage) 2,8 Millionen Arbeitslose (Arbeitsangebot) gegenüberstehen. Dass dem sehr begrenzten Fachkräftemangel wiederum ein deutlich größerer Fachkräfteüberschuss gegenübersteht, haben wir an anderer Stelle herausgearbeitet (siehe zuletzt hier und zuvor hier).
Aus diesen Ungleichgewichten dürfte sich ein wesentlicher Teil der Ängste und Unsicherheiten speisen, aus denen Ausländerfeindlichkeit resultiert und deren erfolgreiche Instrumentalisierung durch rechtsradikale Parteien und Gruppierungen. Dabei sind die Millionen prekär Beschäftigter, Niedriglöhner und zur Teilzeit- und Leiharbeit gezwungenen Arbeitnehmer, die gern eine Vollzeitstelle hätten, um ihre Existenz sichern zu können, noch gar nicht berücksichtigt.
Zu den jetzt schon Arbeitslosen aber hat Nahles nur zu sagen, dass es “immer noch Menschen, arbeitslose, arbeitsuchende Menschen in Deutschland gibt”, um gleich darauf vorzuschlagen, deren “Vorrangprüfung” auszusetzen. Der Zuhörer des Deutschlandfunks erfährt nichts über den riesigen Angebotsüberhang am Arbeitsmarkt – rund 2.200.000 mehr Arbeitslose als offene Stellen. Und er erfährt nichts über die Voraussetzungen, die Arbeitslosigkeit insgesamt zu senken. Ersteres wird ihn einmal mehr beunruhigen und seine Existenzängste vertiefen. Letzteres lässt ihn perspektivlos zurück.
Nahles aber geht noch weiter, wenn sie sagt:
“Wir denken, dass im nächsten Jahr der Zustrom auf den deutschen Arbeitsmarkt deutlich ansteigt. Ich rechne auch damit, dass die Arbeitslosenzahlen steigen. Damit sich niemand Illusionen macht: Wir sind gut, wir können auch viele Leute vermitteln, aber es wird nicht von heute auf morgen erfolgen und deswegen wird erst mal die Arbeitslosenzahl steigen. Das muss niemanden beunruhigen; wir können, wenn wir das gut machen, auch viele in Arbeit vermitteln.”
Wie kommt die Sozialdemokratin aber nur darauf, dass steigende Arbeitslosenzahlen bei einer Arbeitslosenquote, die mehr als doppelt so hoch ausfällt, wie die Quote, die, konservativ betrachtet, als Vollbeschäftigung angesehen wird, eine Arbeitslosenquote von drei Prozent, die Menschen nicht beunruhigen müsse? Sie, als politisch Verantwortliche, müsste dies zuallererst beunruhigen. Nahles ist offensichtlich nicht nur bei der Analyse des Arbeitsmarkts und der Voraussetzungen für die Überwindung der Arbeitslosigkeit überfordert, sondern auch dabei, sich in die Situation der Arbeitslosen hineinzufühlen. Mit anderen Worten: Sie ist ein politischer Totalausfall. So, wie ihr Parteivorsitzender, Sigmar Gabriel, der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie und Vizekanzler ist. Für Gabriel haben diese Menschen “mit Deutschland nichts zu tun”. Sie gehören einfach nicht dazu. Wir haben diese Sicht an anderer Stelle ausführlich problematisiert. Für Nahles und Gabriel gilt, was wir bereits Juncker attestiert haben:
“Juncker ist, das zeigt nicht erst seine Rede gestern zur Lager der Union 2015, genau der Typ Politiker, der die Demokratie in Europa erst hoffähig für radikale Parteien gemacht hat, die seit eben jener von Juncker an höchster Stelle mitverantworteten Wirtschaftspolitik und deren Konsequenzen Erfolge feiern.”
Dass dies unwidersprochen bleibt, liegt auch an Journalisten wie Gerhard Schröder, der die Bundesarbeitsministerin interviewt und, kommt sie tatsächlich einmal auf die Arbeitslosen zu sprechen, ihr nach dem Mund redet und den Hörern denselben Floh ins Ohr setzt, wenn er sagt:
“Es gibt 600.000 offene Stellen. Das Handwerk allein klagt, dass 20.000 Ausbildungsstellen nicht besetzt werden können. Das sind doch eigentlich sehr günstige Bedingungen, um jetzt Flüchtlinge rasch in Arbeit zu vermitteln. Warum ist das trotzdem so schwer?”
Ein weiteres Mal müssen wir feststellen: Nicht nur die herrschende Politik, auch der herrschende Journalismus zeigt sich unfähig, den Dingen auf den Grund zu gehen, und fällt damit als “vierte Gewalt” aus. So aber wird es kaum gelingen, der Gewalt auf der Straße die Grundlage zu entziehen. Auch der Rechtsstaat braucht – wie die Demokratie insgesamt – ein stabiles ökonomisches und soziales Fundament, um reibungslos zu funktionieren. Um dies zu gewährleisten, müssen die politisch Verantwortlichen sich darum bemühen, zentrale wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenhänge zu verstehen. Der Zusammenhang von Konjunktur und Arbeitslosigkeit ist ein solch zentraler, dass seine Vernachlässigung bei den Herausforderungen, denen sich der Arbeitsmarkt nicht erst mit dem Anstieg der Zahl der Flüchtlinge ausgesetzt sieht, erheblichen sozialen und politischen Sprengstoff in sich birgt.
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