Sehr geehrter Prof. Dr. Möller,
in Ihrem Interview mit Spiegel online freuen Sie sich darüber, dass “der deutsche Arbeitsmarkt in einer stabilen Grundverfassung (ist)”.
Was verstehen Sie genau unter einer “stabilen Grundverfassung” des Arbeitsmarktes?
Diese Frage stellt sich sicherlich nicht nur mir, angesichts
von
2.649.277 Arbeitslosen (Arbeitsangebot),
denen
612.236 gemeldeten Stellen (Arbeitsnachfrage)
gegenüberstehen,
und
einer Arbeitslosenquote von sechs Prozent (alle Zahlen Stand Oktober 2015 laut Bundesagentur für Arbeit),
die sich in den vergangenen Jahren nicht spürbar verändert hat (Oktober 2012: 6,5%; Oktober 2013: 6,5%; Oktober 2014: 6,3%) und weit über der Arbeitslosenquote liegt, die, konservativ betrachtet, als Vollbeschäftigung angesehen wird. So definiert das ehemalige Mitglied des Sachverständigenrats, Claus Köhler, eine Arbeitslosenquote von drei Prozent als Vollbeschäftigung, der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sieht Vollbeschäftigung bei einer Arbeitslosenquote von vier Prozent gegeben.
Eine Gegenüberstellung der Zahl der Arbeitslosen mit der Zahl der gemeldeten Stellen in den einzelnen Berufsgruppen zeigt darüber hinaus, dass, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Fachkräfteüberschuss herrscht (die Zahl der Arbeitslosen ist – häufig weitaus – größer als die Zahl der gemeldeten Stellen) und kein Fachkräftemangel (die Zahl der Arbeitslosen ist geringer als die Zahl der gemeldeten Stellen). Zahllose gut und sehr gut qualifizierte Menschen mit Berufserfahrung müssen darüber hinaus feststellen, dass sie auch nach hunderten geschriebenen Bewerbungen nicht nur keine Arbeit finden, die auch nur im Ansatz ihrer Qualifikation entspricht und entsprechend entlohnt wird, sondern gar keine Arbeit. Die Arbeitslosenquote gemessen an den abhängig zivilen Erwerbspersonen liegt dann auch noch einmal über der an allen zivilen Erwerbspersonen gemessenen; noch darüber liegt die weiter gefasste Unterbeschäftigungsquote. Nicht berücksichtigt sind darüber hinaus die Millionen prekär Beschäftigten, die sich eine gesicherte Erwerbstätigkeit wünschen.
Eine weitere Frage, die sich mir in diesem Zusammenhang stellt und die ich an Sie richte, ist, wie Sie sich die hohe Arbeitslosigkeit erklären und was nach Ihrer Kenntnis die zentrale Ursache für das Steigen und Fallen der Zahl der Arbeitslosen bzw. der Arbeitslosenquote wie auch der Beschäftigung wie auch des Arbeitsvolumens ist? Nach meiner Analyse ist dies die Konjunktur, die Zuwachsrate des realen Bruttoinlandsprodukts, mit der – ungeachtet aller Arbeitsmarkt-Reformen (Agenda 2010) – die Zahl der Arbeitslosen, die Arbeitslosenquote, die Beschäftigung und auch das Arbeitsvolumen steigen und fallen. Da Sie in dem Interview die konjunkturelle Entwicklung außen vor lassen, frage ich Sie, wie Sie die Arbeitslosigkeit und ihre Entwicklung erklären? Damit verbindet sich die Frage, welche Zuwachsrate des realen Bruttoinlandsprodukts Sie für notwendig erachten, um die Arbeitslosigkeit zu senken bzw. ob Sie der Auffassung sind – wie es das Interview vermuten lässt -, dass sich die Arbeitslosigkeit losgelöst von der konjunkturellen Entwicklung senken lässt? Sie erwähnen in dem Interview arbeitsmarktpolitische Instrumente zur Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt, die sich im Kern nicht von dem üblichen Instrumentarium der Bundesagentur für Arbeit unterscheiden: “Eingliederungszuschüsse, berufsvorbereitende Maßnahmen, andere Qualifikationsförderungen”. Wie bedeutsam aber ist Ihrer Ansicht nach der konjunkturelle Zusammenhang? Meines Erachtens muss, wenn die Zahl der Erwerbspersonen steigt, die Zuwachsrate des realen Bruttoinlandsprodukts – bei unveränderter Produktivität je Erwerbstätigen – entsprechend höher ausfallen, um die Arbeitslosigkeit konstant zu halten oder zu senken? Ein so definiertes angemessenes bzw. notwendiges Wirtschaftswachstum (Claus Köhler) spielt in Ihrer Argumentation jedoch keine Rolle. Sie gehen zwar für das nächste Jahr von “einem durchschnittlichen Anstieg” der Zahl der Arbeitslosen “um rund 70.000 auf 2,8 Millionen” aus, lassen aber die These der Sie interviewenden Yasmin El-Sharif vom “Jobwunder” unwidersprochen. Ihrem Auftrag, “zu einem besseren Verständnis der Funktionsweise des Arbeitsmarkts” beizutragen, werden Sie damit meines Erachtens nicht gerecht.
In Erwartung Ihrer Antwort verbleibe ich
mit freundlichen Grüßen,
Florian Mahler
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