Sascha Lehnartz bringt die westliche Ignoranz und Selbstgerechtigkeit in seiner Reaktion auf die schockierenden und betroffen machenden Anschläge in Paris sehr gut auf den Punkt, wenn er schreibt: “Sie haben es geschafft, ihren irren Krieg vor unsere Haustür zu tragen.” Wer aber hat den irren Krieg in den Irak, nach Syrien, nach Libyen, nach Afghanistan getragen? Und haben Sascha Lehnartz und “Die Welt”, für die er schreibt, diese Kriege jemals als irre bezeichnet, das Bombardieren von Hochzeitsgesellschaften, Kunduz, die Zerstörung jeder Staatlichkeit im Irak und in Libyen? Natürlich nicht. Sie haben sie mit angeheizt, für notwendig befunden und tun das bis heute. Das aber, was Paris gestern Nacht erlebt hat, erleben die Menschen in Bagdad, in den Städten und Dörfern Syriens, Libyens und Afghanistans jeden Tag. Hat Sascha Lehnartz, haben Merkel, Gabriel, Obama wirklich geglaubt, dieser Terror würde nicht als Terror zu uns kommen? Hat Hollande das geglaubt, der sich zwar nicht um die Massenarbeitslosigkeit und die Integration in seinem Land schert, sich dafür aber umso besser als Kriegsherr zu gefallen scheint und seine Bomber und Militärs in alle Herren Länder schickt? Wenn es aber nach den tonangebenden Politikern und Journalisten im Westen geht, ist das, was gestern in Paris passiert ist, Terror, das, was der Westen zuvor in den genannten Staaten angerichtet hat aber Krieg oder gar eine gerechte Sache. Das ist vielleicht der eigentliche Irrsinn.
Was ich mit Lehnartz teile, ist die persönliche Betroffenheit. Ich habe Mitleid mit den Franzosen, ich trauere um die vielen hundert Toten und Verletzten. Ich denke an die Verletzlichkeit des Menschen, jedes einzelnen, daran also, woran die tonangebenden Politiker und Journalisten nie denken, wenn sie westliche Militäreinsätze befürworten und zu rechtfertigen suchen. Erst vor wenigen Monaten bin ich zu Fuß, trampend und mit der Bahn durch Frankreich gereist. Die Franzosen haben mir ein anderes Bild von Europa präsentiert, als es Medien wie “Die Welt” nunmehr seit Jahren propagieren: Das Europa der Franzosen – wie überhaupt der Menschen, die mir auf meiner Reise durch den Süden Europas, aber auch in Deutschland begegnet sind – ist ein gastfreundliches, weltoffenes, tolerantes, hilfsbereites; das Europa der tonangebenden Politiker und Journalisten in Deutschland ist eines der deutschen Überheblichkeit, des Wettbewerbs, der deutschen Bevormundung und sozialen Kälte. Hier wie dort gilt, will man dem Terror Einhalt gebieten: Westliche Politiker und Journalisten müssen ihre Ignoranz und Selbstgerechtigkeit aufgeben und endlich reflektieren lernen.
Über den eingangs bereits zitierten Satz irrlichtert Lehnartz aber noch weiter, wenn er schreibt: “Hier geht es um uns. Um die Art, wie wir leben. Um unsere Freiheit. Wir werden alle darum kämpfen müssen.” Was soll das heißen? Sollen wir jetzt zu den Waffen greifen? Wird Lehnartz der erste sein und sein Leben an der unsichtbaren Front für “unsere Freiheit” opfern, oder wird er nur zur Feder greifen, um einen solchen Kampf zu befeuern, wofür er, daran kann angesichts seines Artikels gar kein Zweifel bestehen, ein außerordentliches Talent besitzt? Und auch in diesem Satz bringt Lehnartz wieder das Grundproblem der tonangebenden Politiker und Journalisten auf den Punkt: Es geht ihrer Ansicht nach nur “…um uns. Um die Art, wie wir leben. Um unsere Freiheit.” Wer ist hier nun eigentlich irre? Ich würde sagen, Lehnartz. Denn es geht natürlich nicht nur “um uns”, “um die Art, wie wir leben”, “um unsere Freiheit”, womit im übrigen nicht klar ist, was und wer damit eigentlich gemeint sein soll: sind die Lebensumstände doch auch bei uns äußerst heterogen und haben sich in den vergangenen Jahrzehnten auf dramatische Art und Weise auseinander entwickelt. Auch davon wollen die tonangebenden Politiker und Journalisten aber nichts wissen; sie reden und schreiben und betreiben Politik darüber hinweg. So betrachtet haben diese Politiker und Journalisten ein ernsthaftes Integrationsproblem. Es geht darüber hinaus aber selbstverständlich auch um die anderen, die Iraker, die Syrer, die Libyer, die Afghanen und all die unschuldig Geschundenen, die der Westen mit brutalem Bombenterror überzogen hat und mit täglichen Drohnenangriffen terrorisiert.
Es ist nicht zu erwarten, dass die Ignoranz und Selbstgerechtigkeit in Politik und Medien nach den Attentaten in Paris in Selbstreflexion umschlagen. Zu befürchten ist daher, dass der Terror weitergeht und immer neue Eskalationsstufen erreicht. Zu befürchten ist auch, dass rechtsradikale Politiker wie Le Pen diesen Terror für ihren Terror instrumentalisieren. Wir dürfen dabei jedoch nicht vergessen, dass es die demokratischen Parteien in großem Einvernehmen mit den meisten Medien sind, die dieser Entwicklung den Boden bereitet haben und weiter bereiten. Es ist überhaupt nicht auszuschließen, im Gegenteil, es liegt auf der Hand und in der Luft, dass sich so auch ganze Bevölkerungen wieder für einen Krieg einspannen lassen, also bereit sind, für die Fehler von Politikern, Journalisten und anderen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verantwortungsträgern zu sterben.
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