Das ist schon fast niedlich bzw. aberwitzig, wenn es nicht gleichzeitig so unreflektierter und schlechter Journalismus wäre, der angesichts der Dramatik der Ereignisse völlig unangemessen erscheint. Dabei hätte die Autorin noch nicht einmal über den eigenen Zeitungsrand hinausschauen müssen, um die hinter den Ereignissen von Köln stehenden, grundsätzlichen Probleme zu erkennen. Helene Bubrowski schreibt in der Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ): “Aus der Schreckensnacht von Köln müssen die Behörden Konsequenzen ziehen. Denn das Vertrauen der Bürger in die Macht des Staates ist durch die massenhaften Übergriffe auf Frauen beschädigt worden.” Bubrowski scheint die Zeitung ihres Arbeitgebers nicht zu lesen. Anders ist ihre Fehleinschätzung wohl kaum zu erklären.
Denn wer, wenn nicht die FAZ, plädiert denn seit Jahren dafür, den Staat klein zu halten? Mit Erfolg! Steuern für Großverdiener, Vermögende und Unternehmen – nicht selten in Personalunion – wurden kräftig gesenkt, Arbeitnehmerrechte massiv eingeschränkt, auf den Sozialstaat Angewiesene werden mit Hartz IV schikaniert, ein Niedriglohnsektor wurde kultiviert, der öffentliche Dienst wurde kaputt gespart, seit Jahrzehnten verlassen Jahr für Jahr rund 60.000 Schüler ohne Abschluss die Schulen. Jetzt zu meinen, “das Vertrauen der Bürger in die Macht des Staates” sei “durch die massenhaften Übergriffe auf Frauen beschädigt worden”, ist doch allzu kurz gesprungen, ja geradezu hirnrissig. Konsistent ist es allenfalls mit dem übrigen Niveau der FAZ. Da spricht es schon Bände, wenn selbst die Bild-Zeitung mehr Aufklärung bietet.
Die hat heute ein Polizei-Protokoll veröffentlicht, aus dem unter anderem hervorgeht, dass die Polizei allein durch die Zahl der Einsatzkräfte unterlegen war: “Die Einsatzkräfte konnten nicht allen Ereignissen, Übergriffen, Straftaten usw. Herr werden, dafür waren es einfach zu viele zur gleichen Zeit…Zu Spitzenzeiten war es den eingesetzten Kräften nicht möglich, angefallene Strafanzeigen aufzunehmen…Der viel zu geringe Kräfteeinsatz (…) brachte alle eingesetzten Kräfte ziemlich schnell an die Leistungsgrenze…” Auch um die materielle Infrastruktur der Polizei scheint es nicht gut bestellt: “Ein Gewahrsam kam in dieser Lage aufgrund der Kapazitätsgrenze in der Dienststelle nicht in Betracht.”
Seit Jahren aber ist bekannt und wird von verantwortlichen Personen immer wieder benannt, dass die Polizei am Rande der Kapazität arbeitet. Das gilt auch für viele andere staatliche Bereiche, in die der Bürger einst, vor langer Zeit, Vertrauen hatte: den Gesundheits- und Bildungssektor zum Beispiel (letzterer besonders wichtig auch dafür, Menschen mit Migrationshintergrund, aber auch an den gesellschaftlichen Rand gedrückte Menschen deutscher Herkunft erfolgreich zu integrieren bzw. zu reintegrieren) oder die Versorgung im Alter. Überall knausert der Staat in diesen Bereichen. Bei der Zahl der Beschäftigten, ihrer Ausstattung, ihrer Entlohnung. Entweder direkt als Arbeitgeber oder indirekt über entsprechende Gesetze. Mit tatkräftiger Unterstützung von Medien wie der FAZ, deren Schreiberlingen noch ein Hungermindestlohn von 8,50 zu viel des Guten ist. Eine Chefideologin der FAZ, Heike Göbel, schrieb erst am 24.12.2015: “Was der ´gerechte´ Lohn ist, sollte in einer Marktwirtschaft aber der Wettbewerb bestimmen, nicht die Politik. Denn für die Löhne muss am Ende der Kunde aufkommen. Das ist in der Mehrheit nicht der Staat, der weniger rechnen muss, weil er sich beim Steuerzahler schadlos halten oder Schulden machen kann. Daran zu erinnern ist in Deutschland verpönt.” Das Problem der FAZ: Sie erlaubt nur diese eine Ideologie und könnte damit genauso in Nordkorea Hof halten, wäre das Land denn nicht kommunistisch, sonder kapitalistisch.
Das Ergebnis dieser Ideologie ist, dass zwar Manager, die Banken und Autokonzerne in die Pleite führen, dennoch versorgt sind wie ehemals nur Kaiser und Könige, der brave Polizist, die brave Krankenschwester, der brave Altenpfleger, die brave Grundschullehrerin, der brave Sozialpädagoge aber jeden Euro strecken müssen, so wie vieler ihrer Klienten. Am Ende stehen sie sich auch noch mit Brandsätzen und Schlagstöcken gegenüber, und die Polizisten müssen das einzudämmen versuchen und das zu retten versuchen, was die Politik ihnen eingebrockt hat. Wer den Polizeistaat nicht will, braucht eben einen funktionierenden Sozialstaat, der dafür sorgt, dass solch primitiven, brutalen Ereignisse wie in Köln gar nicht erst möglich werden, zum Beispiel, indem viel, sehr viel Geld in Bildung gesteckt wird und zwar so, dass es diejenigen mit wenig Geld und schlechten familiären Voraussetzungen mindestens genauso gut erreicht wie die materiell Begüterten – das Gegenteil war in den vergangenen Jahrzehnten der Fall.
Wer gewaltfreie, nicht sexistische, friedliche, tolerante Menschen möchte, muss auch in diese investieren! Will Deutschland das aufholen, was es in den vergangenen Jahren versäumt hat, muss die Politik sehr viel, sehr sehr viel Geld in die Hand nehmen. Sehr sehr viel Geld! Die jetzt zu hörenden heroischen Bekundungen von Provinz- und Bundespolitikern zeigen aber nur, dass sie die Zeichen der Zeit immer noch nicht erkannt haben. So wie sie auch Helene Bubrowski und die FAZ bis heute nicht erkannt haben.
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