Im Gespräch mit Luciana Castellina: “Man muss Europa verteidigen, aber nicht das gegenwärtige Europa.”

Luciana Castellina, geboren am 9. August 1929, ist eine bedeutende Zeitzeugin der italienischen und europäischen Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts. 1947, Eintritt in die Kommunistische Partei Italiens (PCI), 1969 Rauswurf aus der PCI. Der Grund: Sie und andere wollten das Schweigen der politischen Führung zum Prager Frühling nicht länger hinnehmen. Sie hatten eine eigene Zeitung, “Il Manifesto”, gegründet. Von 1976 bis 1983 saß sie im italienischen Parlament, von 1979 bis 1999 im Europäischen Parlament. Vergangene Woche rief mich die Politologin Patrizia Storelli-Felten an, die zuvor bereits in WuG veröffentlicht hatte. Luciana Castellina, mit der sie gut befreundet sei, sei in Berlin, ob ich nicht ein Interview mit ihr führen wolle. Alles war sehr kurzfristig, und so lief es darauf hinaus, dass ich ihr meine Fragen zusendete, und sie das Interview führte und darin auch eigene Fragen eingeflochten hat. Gemeinsam haben wir es dann ins Deutsche übersetzt und zu Papier gebracht.

Ungeachtet ihres hohen Alters, beteiligt sich Luciana Castellina noch äußerst rege am Kultur- und Politikbetrieb, ja, sogar an der Gründung einer neuen Partei in Italien, die aus der Partei Sinistra Ecologia Libertà (SEL), die sich auflösen wird, und anderen linken Bewegungen bis zum Dezember des laufenden Jahres entstehen soll. Hintergrund ist die Auffassung vieler, dass die bestehende linke, sozialdemokratische Partei, die Partito Democratico (PD), unter Ministerpräsident Matteo Renzi nicht mehr die Werte der Demokratie und der Linken vertritt. Zur Leipziger Buchmesse wird ihr Buch, La scoperta del mondo, das die Tagebücher ihrer Kindheit und Jugend zur Grundlage hat, in deutscher Übersetzung erscheinen. Florian Mahler

Wie geht es Italien heute, wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch?

Italien geht es nicht gut. Mein Urteil über Renzis Regierung fällt nicht positiv aus. Nicht allein wegen der politischen Entscheidungen, die die Regierung unter ihm getroffen hat. Auch, weil er ein Politik-Modell eingeführt hat, das die Demokratie gefährdet. Die Konzentration der Macht liegt bei der Regierung, bei der Exekutive, während das Parlament, die Parteien, die demokratische Beteiligung marginalisiert werden. Frei nach dem Motto: Ich, Renzi, mache alles, und ihr könnt mir später sagen, ob es gut war.

Wenn man aber die Demokratie reduziert auf einen Knopf, den man drücken kann, wenn nur noch der Daumen nach oben oder nach unten geht, I like it or I don´t like it, dann ist das keine Demokratie mehr.

Ich verstehe daher, warum die jungen Menschen den Fußball der Demokratie vorziehen.

Ich verstehe daher, warum die jungen Menschen den Fußball der Demokratie vorziehen. Demokratie ist Beteiligung, Debatte, Diskussion, Dialog und Konfrontation. Die Demokratie ist ein langsamerer Prozess, als einfach zu entscheiden (Anmerkung der Redaktion: Sie benutzt das Wort Decisionismo, das in Italien für die Form des Durchregierens benutzt wird, eine Parallele zur Basta-Politik des früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder in Deutschland). Aber Demokratie garantiert, dass die Gesellschaft repräsentiert wird.

Renzi hat ein Politik-Modell eingeführt, das in der ganzen Welt verbreitet ist. Es ist auch das Modell, mit dem die Europäische Union regiert wird. Man denkt, die Probleme sind zu kompliziert, um sie in die Hände von dummen Parlamentarien und der Gesellschaft zu geben. Die Technokraten und Bürokraten sollen sich damit beschäftigen. Alles wird delegiert an neutrale Stellen, die Entscheidungen treffen, die neutral sein sollen, es aber nicht sind. Das ist gefährlich, weil die Demokratie die Gesellschaft als König braucht und nicht die Technokraten.

Das ist in Italien im Moment das Gefährlichste. Renzi reformiert die Verfassung und beugt damit deren Geist, der auf der Beteiligung der Gesellschaft basiert. Er versucht, immer mehr Macht in der Exekutive zu konzentrieren. Über die geänderte Verfassung soll im Oktober per Referendum, per Volksentscheid, entschieden werden. Es gibt viele, die schon jetzt gegen dieses Referendum kämpfen, weil unsere Verfassung eine sehr schöne ist, geboren aus dem Widerstand und unter Beteiligung aller Anti-Faschisten, der Kommunistischen Partei, der Sozialistischen Partei und der Christlich Demokratischen Partei. Sie haben sich gemeinsam auf diese Verfassung verständigt. Diese gemeinsame Haltung war sehr wichtig. Diese Verfassung ist heute in Gefahr.

Sind das die Reformen, die schon Berlusconi durchsetzen wollte?

Nein, aber sie gehen in dieselbe Richtung. Renzis erste Regierungshandlung war ein Treffen mit Berlusconi, um sich über die Reformen zu einigen. Diese Einigung kam sehr schnell zustande, weil sie eben in dieselbe Richtung gehen.

Aber dann hat sich die Partei Berlusconis gespalten. Er hat sich daraufhin für die Opposition entschieden. Jetzt, in der Opposition, ist er gegen die Reformen, was irgendwie komisch ist, denn es sind ja die Reformen, über die sich Renzi mit ihm geeignigt hatte.

Es gibt eine Krise der Demokratie. Aber nicht nur in Italien, sondern überall. Das hat auch mit der ideologischen Leere der Parteien zu tun und deren intellektueller Krise.

Es gibt eine Krise der Demokratie. Aber nicht nur in Italien, sondern überall. Das hat auch mit der ideologischen Leere der Parteien zu tun und deren intellektueller Krise. Insbesondere betrifft das die linken Parteien. Denn die linken Parteien brauchen die Demokratie. Die rechten Parteien haben die Demokratie noch nie gebraucht, die dienen dem Privateigentum und dem Markt.

Wenn wir von links reden, reden wir von der Fähigkeit der Menschen, den Autopiloten der Märkte zu kontrollieren. Niemand will den Markt abschaffen. Aber man kann den Markt nicht allein lassen, weil der Markt kurzsichtig ist. Er sieht nur das Heute und nicht das Morgen. Der Markt wird nie unsere großen ökologischen Probleme lösen, denn die Schäden, die heute im Namen großer Profite verursacht werden, werden nicht von Firmen, die diesen Schaden produzieren, bezahlt, sondern werden viele Jahrzehnte später von der Allgemeinheit bezahlt, die unter Klimawandel oder sozialen Problemen leiden. Es ist klar, dass, wenn man sich auf den Markt verlässt, die einzige Regel der Profit ist.

Das Handeln des Menschen ist sehr wichtig für die Demokratie. So war die Kommunistische Partei in Italien zwar nie an der Macht, hat aber viele Kämpfe gewonnen, indem sie einen großen Einfluss auf die Gesellschaft ausgeübt hat. Die Gesellschaft hat sich widergespiegelt im Parlament. Deswegen konnte die Regierung diesen Einfluss nicht ignorieren. Die Krankenversicherung, die Rente, die Rechte der Arbeiter, die Rechte der Frauen, alle diese Errungenschaften sind auf Druck der Opposition durchgesetzt worden. Dieser Mechanismus ist gesprengt. Es gibt nur die Exekutive. Puncto. Basta. Ich mache es. Die Leute wissen nicht länger, was Demokratie ist.

Man hat eine Kampagne durchgeführt, dass die Demokratie zu viel kosten würde. Sicherlich, es gab viel Korruption. Viel Korruption. Die politischen Parteien sind verschmolzen mit den Institutionen. Die Beziehung zu den Menschen ist verloren gegangen. Diese Spaltung zwischen Basis und Partei gilt auch für die linken Parteien.

Politik ist heute die Suche nach Konsens, wie die Einschaltquote beim Fernsehen. Man sieht, 35 Prozent der Gesellschaft will das, 45 Prozent will das andere. Und dann macht die Politik, was mehr gefragt ist. Die Linke aber ist ein Projekt, eine Vision, ich sage immer: eine Frage nach dem Sinn. Warum leben wir? Was wollen wir für die Menschen tun? Was will ich in Beziehung mit anderen tun? Das ist nicht eine Ansammlung von Konsens, sondern ein Projekt. Dieses Projekt existiert nicht mehr. Die Werte sind verloren gegangen. Natürlich sind sie nicht vollständig verloren. Ein Teil der Gesellschaft kämpft und organisiert sich. Ich denke zum Beispiel an die große Demonstration gegen die Schulreformen von Renzi. Denn natürlich, eine Schule, die nur daran denkt, wie man dem Markt besser dienen kann, ist keine gute Schule. Die Bildung muss der Forschung dienen, die vielleicht nicht sofort dem Markt nützlich ist, aber in die Zukunft schaut. Diejenigen, die diese Forschung machen wollten, mussten Italien verlassen. Es gibt keine Forschung mehr in Italien. Auch Demonstrationen von Gewerkschaften waren wichtig. Die linke Partei, die Kommunistische Partei Italiens, war so wichtig, sie war die größte kommunistische Partei West-Europas mit zwei Millionen Mitgliedern. Heute aber ist sie zersplittert, und dadurch ist ein politisches Vakuum entstanden. Aber Teile der Gesellschaft kämpfen weiter, wie zum Beispiel auch die Demonstration gegen geplante Off-Shore Bohrungen nach Öl vor der italienischen Küste zeigt. Ein verrücktes Projekt, weil wir vom Tourismus leben, und es ein ökologisches Desaster wäre. Dagegen wird nun aus der Bevölkerung ein Referendum initiiert. Dieser Teil der Gesellschaft aber ist heute ohne politischen Rückhalt. Das ist, was heute in Italien passiert.

Was ist der Kern der Krise Europas oder ist die Krise zu komplex, um sie auf einen Kern zu reduzieren?

Die Krise ist in den südlichen Ländern Europas größer, weil, historisch gesehen, die ökonomischen Strukturen dort fragiler waren und sind. In der Situation ökonomisch starker und ökonomisch schwacher Länder eine Politik der Austerität zu beteiben, ist katastrophal. Austerität kann gut sein, für ein starkes Land. Aber um Probleme zu lösen, muss man investieren. Man muss zuerst geben, um dann später nehmen zu können. Wenn ich das Geld unter der Matratze lasse, passiert nichts. Das ist das große Problem der europäischen Politik, die sehr stark von Deutschland bestimmt ist.

Man muss zuerst geben, um dann später nehmen zu können. Wenn ich das Geld unter der Matratze lasse, passiert nichts. Das ist das große Problem der europäischen Politik, die sehr stark von Deutschland bestimmt ist.

Deutschland hat eine Volkswirtschaft, die nicht so stark expandieren muss, wie andere. Es ist wahr, die südlichen Länder sind hoch verschuldet. Aber diese Schulden haben auch historische Gründe. In jedem Fall aber muss man, um die Schulden tilgen zu können, zuerst die Wirtschaft beleben. Wenn man nur darauf besteht, dass die Schulden bezahlt werden, verursacht man ein Massaker wie in Griechenland – und bald auch in Italien. Es gibt schon jetzt vier Millionen Menschen in Italien, die unter der Armutsgrenze leben. Das sind Zahlen der Caritas. Es handelt sich wirklich um Menschen, die nicht genug zu essen haben. Und das ist nur Italien. Dasselbe passiert auch woanders. Es gab nie eine Zeit, in der der Unterschied zwischen arm und reich so groß war. Was noch neu ist, dass die Armut auch die Mittelschicht erfasst. Die junge Generation findet keine Jobs. Sie werden auch keine Rente haben. Sie leben von der Rente der Großeltern.

Warum will Deutschland diese Austeritäts-Politik, ist das von deutscher Seite bloß politisch kurzsichtig oder haben sie ein Interesse?

Beides. Es ist wahr, das Frau Merkel gut, sympathisch und intelligent ist. Und sie hat viel Feingefühl in der Flüchtlingskrise gezeigt. Aber die ökonomischen Entscheidungen trifft Herr Schäuble. Herr Schäuble und andere. Nach den 1960er, 1970er Jahren, in denen es große Kämpfe gab, Kämpfe für soziale Verbesserungen, aber auch das Ende des Kolonialismus in der Dritten Welt, für die Rechte der Arbeiter, für mehr Wohlfahrt, traf sich 1973 in Tokio das erste Mal eine neue Gruppe, die Trilater heißt. Die setzte sich zusammen aus Finanzeliten Japans, Europas und den USA. Dieses Treffen haben damals Kissinger und Rockefeller gewollt. Die waren der Aufassung, es gebe zu viel Demokratie. Das System könne sich dies nicht erlauben. Die ökonomischen Fragen und Aufgaben wären zu wichtig, um sie den Parlamenten zu überlassen. Dagegen müsse man etwas tun. So entstand das, was wir unter Thatcherismus und Reaganismus kennen. Das war der Anfang einer politischen Ausrichtung, die wir auch Monetarismus nennen. Die Rechte, die erobert worden waren, sollten zurückgeschraubt werden. Das Gegenteil dessen, was wir als New Deal kennen. Diese Politik war katastrophal und hat auch in den USA Schaden angerichtet. Die Arbeitslosigkeit ist gestiegen. In England hat sie das Sozialsystem und die Gewerkschaften zerstört. Unter Berlusconi haben wir dies auch erlebt. Deutschland hat diese Politik besser verkraftet und war in der Lage ein Gleichgewicht zu finden. Jetzt aber will Deutschland diese Politik in ganz Europa durchsetzen. Deutschland konnte es sich erlauben, weil die Wirtschaft so stark war. Aber für die anderen Länder ist das eine Katastrophe. Obama dagegen hat eine andere Richtung eingeschlagen. Mit der Konsequenz, dass sich die USA von der Krise erholen konnten. Die Krise 2008 hat die durch die Politik des Thatcherismus und Reaganismus hervorgerufene Situation noch verschlimmert. Die Krise beweist den Wahnsinn einer Politik, die alles dem Markt überlässt, ohne dass jemand sagt: Stop!

Die Banken haben viel Geld verloren. Sie sind gerettet worden, aber die Staaten nicht. Sicherlich, die Probleme sind sehr komplex. Sie sind komplex, auch aufgrund der technologischen Entwicklung, die die Produktionsstrukturen tiefgreifend verändert hat. Es gibt neue Berufe, neue Qualifikationen, wir befinden uns an einem großen Wendepunkt in der Geschichte. Umso wichtiger ist es, die Bevölkerung an den Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Das Risiko ist, die Staatshaushalte werden saniert, später aber, in zehn, zwanzig Jahren, werden wir eine riesige Masse von alten Leuten ohne Rente, jungen Leuten ohne Job und Millionen von Flüchtlingen haben, die aus Regionen kommen, die wir ausgebeutet haben. Ich weiß nicht, was wir dann noch machen können.

Was sollte die Politik tun?

Der erste Schritt ist, die Demokratie wieder herzustellen. Das wäre schon ein großer Schritt, der zum Beispiel für das Verfassungs-Referendum in Italien sehr wichtig wäre. Der Souverän, der entscheiden muss, ist die Bevölkerung. Und man muss Formen der Beteiligung finden. Es kann nicht sein, dass die Bevölkerung nur einmal alle fünf Jahre konsultiert wird und sagen darf: gefällt mir, gefällt mir nicht. I like it, I don´t like it. Als würde man über ein Lied abstimmen.

Welche Rolle spielt die Gesellschaft, welche das Individuum?

Man muss die Leidenschaft der Beziehungen mit anderen wieder finden. Das ist Politik. Es ist erstaunlich, wenn ich die jungen Leute frage, was Politik ist, antworten sie: Betrug, Korruption, das interessiert mich nicht. Und wenn ich sie frage, was ist das Repräsentantenhaus, antworten sie: Das ist ein Ort, wo man nur Zeit verliert.

Die Politik ist die Beziehung mit anderen. Wer bin ich, in Verbindung mit anderen? Wir haben nur einen Sinn, wenn wir gemeinsam sind. Wie wollen wir uns organisieren? Was machen wir mit unserem Leben? Wie will sich der Einzelne beteiligen, jeder von uns? Oder wollen wir nur Untertanen sein, durcheinandergeworfen, wie Kegel?

Das ist schade. Die Politik ist die Beziehung mit anderen. Wer bin ich, in Verbindung mit anderen? Wir haben nur einen Sinn, wenn wir gemeinsam sind. Wie wollen wir uns organisieren? Was machen wir mit unserem Leben? Wie will sich der Einzelne beteiligen, jeder von uns? Oder wollen wir nur Untertanen sein, durcheinandergeworfen, wie Kegel?

Es wird lange dauern, die jungen Leute wieder dafür zu begeistern, politisch selbständig zu denken und zu handeln. Heute herrscht ein gefährlicher Individualismus. Jeder denkt nur an sich selbst. Ich will dieses und jenes Recht nur für mich. Man ist aber nicht länger in der Lage, miteinander zu denken. Ich existiere jedoch nicht ohne die anderen. Das ist eine kulturelle und präpolitische Arbeit. Ich weiß jetzt gerade nicht, wie ich es genauer fassen soll. Aber ich bin mir sicher, das ist das, was man die nächsten Jahre tun muss.

Wie ist es um den Journalismus bestellt, in Italien und in Europa generell?

In Italien schließen die Zeitungen. Beginnen wir dort. Aber nicht nur in Italien. Gerade vorgestern wurde bekannt, dass eine große englische Zeitung, der Independent, nur noch online erscheinen wird. Die Zeitungen haben auch in Italien Millionen Auflage verloren. Das hilft wiederum nicht der Demokratie. Man sagt zwar, alles sei online zu finden, und wir denken, online bedeutet mehr Freiheit, weil alle dort schreiben können. Aber das Problem ist, dass alle schreiben, aber keiner liest. Vielleicht, weil eben alle schreiben. Auch in der Literatur. Es gibt tausende von Romanen, mit Handy geschrieben, die im Internet landen, und keiner liest das. Jeder liest nur sich selbst. Und dann gibt es mächtige Gruppen – denn es ist nicht wahr, dass das Internet frei ist – die dich dahin leiten, wohin sie wollen. Das geschieht unbemerkt. In einer Zeitung, weiß man wenigstens, was man kauft. Die Suchmaschinen im Internet lassen einen bestimmte Dinge finden, andere nicht. Das ist wie eine unsichtbare Hand, die aber sehr mächtig ist. Daher gilt auch für die Medien, die Demokratie hat sich verschlechtert.

Sind die Medien in Italien frei?

Die Freiheit ist immer eine finanzielle, ökonomische Frage. Meine Zeitung, Il Manifesto, hat nicht die ökonomischen Mittel, um eine breitere Leserschaft zu finden. Eine Zeitung braucht Werbung und ökonomische Mittel, um diese zu finanzieren. Weil Il Manifesto eine linke Zeitung ist, hat sie kaum Werbung.

Die Freiheit ist immer eine finanzielle, ökonomische Frage.

Die großen Zeitungen finanzieren sich durch Werbung. Aber wer finanziert die Werbung? Doch diejenigen, die die eine rechte Politik wollen. Das aber bedeutet, draußen zu bleiben. Das heißt, jeder in Italien hat die Freiheit, eine Zeitung zu gründen, aber nicht die Freiheit, es sich leisten zu können.

Wie sehen Sie Deutschland?

Ich glaube Deutschland fängt an, die Krise zu spüren. Das müsste die Regierung dazu bewegen, ihre Politik zu überdenken. Bis jetzt hat sich Deutschland ganz gut gehalten, dank drastischem Sozialabbau. Auch hier gibt es ein großes Prekariat. Ich sehe junge Leute – und ich kenne viele junge Leute in Deutschland – die von 800 bis 900 Euro im Monat leben. Natürlich ist es immer noch besser als in Italien, weil sie hier staatliche Unterstützung erhalten. Aber es ist eine schwierige Situation.

Durch die schlechte Lohnentwicklung und den Abbau von Arbeitnehmerrechten konnte Deutschland exportieren. Aber das war keine gerechte Entwicklung.

Durch die schlechte Lohnentwicklung und den Abbau von Arbeitnehmerrechten konnte Deutschland exportieren. Aber das war keine gerechte Entwicklung. Jetzt sagen alle Indexe, dass Deutschland in eine Krise kommt. Es kommt eine Phase, in der Deutschland nicht länger wachsen wird. Ich habe gerade gestern Daten gesehen, dass Deutschland sich nicht besser entwickelt als Italien. Frankreich steckt auch tief in der Krise. Es sind nicht länger nur die Südländer in der Krise, sondern auch alle anderen. Ich glaube das wird auch in Deutschland die politische Debatte wieder öffnen, die bis jetzt gedeckelt ist von Frau Merkel. Aber jetzt kommen alle Probleme nach oben. Und die SPD, die fast ausgestorben ist in Deutschland, man hört sie kaum. Sie führt keine Debatte über die Zukunft Deutschlands.

Man muss hinzufügen, dass Deutschland auch geographisch eine strategisch wichtige Position innehat. Die EU ist gestorben, als sie die sinnlose Entscheidung getroffen hat, sich nach Osten zu erweitern. Sinnlos deswegen, weil man so große Regionen und Länder, die so verschieden sind, die so unterschiedliche Niveaus haben, nicht integrieren kann. Stattdessen hätte man andere Formen der Kooperation wählen müssen, ich sage immer ähnlich den olympischen Ringen. Nicht Brüssel in der Mitte und die halbe Welt drum herum.

Deutschland konnte schon aufgrund der geographischen Lage eine besondere Beziehung nach Osteuropa aufbauen. Investitionen und Kontakte. Aber auch dort ist eine Situation entstanden, die nicht gerecht ist. Zum Beispiel in Polen, wo eine Elite herrscht und eine breite Masse in Armut lebt. Man kann diese scherenartige Entwicklung überall beobachten.

Was ist für Sie heute Kommunismus?

Wenn man mich fragt, warum ich dieses Wort benutze, mache ich das im Namen der Geschichte der italienischen Kommunisten, die auch meine Geschichte ist und die der Kommunistischen Partei Italiens. Und die Geschichte aller Gruppen, wie Il Manifesto, die von der 1968er Bewegung geboren wurden.

Man darf nicht vergessen, dass 1968 in Italien zehn Jahre gedauert hat. Das war nicht nur der Mai, das war nicht nur eine Saison.

Man darf nicht vergessen, dass 1968 in Italien zehn Jahre gedauert hat. Das war nicht nur der Mai, das war nicht nur eine Saison. Diese Geschichte ist sehr wichtig, denn alles, was wir in Italien erreicht haben, von der Demokratie bis hin zu den sozialen Rechten, kommt aus dieser Zeit und ist die Frucht von Kämpfen, Gefängnis und Opfern italienischer Kommunisten. Ich betone den Wert und die Bedeutung dieser Geschichte.

Außerdem, Karl Marx hat nie gesagt, wie eine kommunistische Gesellschaft aussehen sollte. Die Sowjetunion ist aus historischen Gründen entstanden. Es wäre wünschenswert, wenn sich die Leute der Ursachen besser bewusst würden. In der DDR herrschte noch eine andere Form des Kommunismus. In Italien haben wir Gott sei Dank nicht die Form der Sowjetunion oder der DDR gehabt. Aber wir Kommunisten haben noch heute das Problem, Gleichheit und Freiheit gemeinsam zu verwirklichen. Alle Revolutionen haben das versucht. Alle Revolutionen haben etwas gewonnen. Die französische Revolution hat von Liberté, Egalité, Fraternité gesprochen. Die Freiheit hat einen Sprung nach vorn gemacht, die Gleichheit aber nicht. Die russische Revolution hat im Namen der Gleichheit die Freiheit unterdrückt. Dieses Problem besteht fort. Was wollen wir tun, verzichten, oder es weiter versuchen?

Kommunismus ist kein Gesellschaftsmodell, das darüber hinaus auch noch keiner definiert hat. Selbst aber, wenn es jemand bereits definiert hätte, müsste man diese Defintion heute ändern, wegen der großen technologischen Veränderungen. In einem Satz: Kommunismus ist die Antwort auf die Frage, wie können wir Freiheit und Gleichheit zusammen garantieren.

Wie sehen Sie die Zukunft Europas?

Zurzeit sehr schlecht. Europa steht vor einem Abgrund. Es gibt in Brüssel eine Führung, die antidemokratisch ist, die sich vor niemandem rechtfertigen muss. Das provoziert nationalistische Rebellionen. Die gefährden die Existenz Europas. Die Flüchtlingsfrage ist typisch; es gibt keine Solidarität. Die Lissaboner und Maastrichter Verträge sagen, die Wettbewerbsfähigkeit ist das oberste Ziel.

Der höchste Grad von Wettbewerb kann aber darauf hinauslaufen, dass ich dich töte, um zu überleben.

Der höchste Grad von Wettbewerb kann aber darauf hinauslaufen, dass ich dich töte, um zu überleben. Auf dieser Basis kann Europa nur scheitern und Ungleichheit verbreiten. Ich bin der Meinung, man muss Europa bewahren, aber man muss es ändern. Wenn man es nicht ändert, kann man es nicht bewahren.

Aufgrund der Globalisierung ist es nicht denkbar, demokratische politische Strukturen zu haben – ein globales Parlament, das kontrolliert, was in der Welt passiert. Auf nationaler Ebene wiederum kontrolliert man fast nichts mehr, da die Mehrheit der Entscheidungen von internationaler Bedeutung sind. Die nationalen Regierungen können in der ein oder anderen Weise anwenden, was auf der Verwaltungs- und Handelsebene der globalen Finanzwelt entschieden wird. Die einzige Hoffnung, die wir noch haben, ist die Gründung von supra-nationalen-Regionen, wie die EU, die irgendwie eine demokratische Kontrolle garantieren, die auf nationaler Ebene verloren gegangen ist. Asien wäre eine weitere supranationale Region, die USA mit Lateinamerika eine andere. Europa könnte hierfür ein Modell sein, weil es historisch gesehen, die Wiege demokratischer und sozialer Errungenschaften ist. Das ist sein historisches Erbe. Das ist sehr wichtig für die ganze Welt. Man muss Europa verteidigen, aber nicht das gegenwärtige Europa, das dieses Erbe zerstört.

Was ist Ihre Botschaft an die junge Generation?

Ich möchte der jungen Generation vermitteln, dass Politik viel mehr Spaß macht, als Fußball und Konzerte. Nicht, weil ich gegen Fußball und Konzerte bin. Aber man muss sich begeistern für das Schönste im Leben. Was wollen wir mit der Menschenheit machen? Es gibt doch nichts Interessanteres, als diese Frage zu stellen und zu beantworten. Das ist doch das Schönste, was man im Leben machen kann, darüber nachzudenken, wohin wir gehen. Leider aber scheinen die jungen Leute das nicht mehr wissen zu wollen (lacht).


Dieser Text ist mir etwas wert


Verwandte Artikel: