Staatsfinanzen: So sicher ist Schäubles “Tragfähigkeitsbericht” – und so unsicher dessen Interpreten

Die Aufregung ist groß, und das von ganz unterschiedlichen Seiten: Es gibt einen neuen so genannten Tragfähigkeitsbericht aus dem Hause des Bundesministers für Finanzen, Wolfgang Schäuble. Der allerdings liegt bisher nur exklusiv einigen Medien vor, ist also noch nicht offiziell veröffentlicht und somit auch uns nicht zugänglich. Anders als “Die Welt” und das sie kritisierende Blog “flassbeck-economics” haben wir dennoch zuerst einmal nach den Originalquellen geschaut. Immer getreu nach dem Motto dieses Mediums: Erst die Analyse, dann die Meinung. Vom Bundesfinanzministerium (BMF) erfahren wir bereits nach kurzer Recherche über den so genannten Tragfähigkeitsbericht: “Um nicht nur gegenwärtige Herausforderungen, sondern auch langfristige finanzpolitische Risiken wie den demografischen Wandel eng im Blick zu haben, erstattet das BMF seit 2005 einmal pro Legislaturperiode Bericht über die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen.” Geschrieben steht das in der “Zwischenaktualisierung zu Beginn der neuen Legislaturperiode” vom 25.03.2014. Dort erfahren wir auch den Untersuchungsgegenstand: “Untersuchungsgegenstand dieser Analysen ist die Frage, ob in Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik vor dem Hintergrund des demografischen Wandels politischer Handlungsbedarf besteht, um den Anstieg der Staatsverschuldung aufzuhalten beziehungsweise umzukehren.” Wer die Zwischenaktualisierung dann auch noch liest, erfährt nicht nur, in welchem Abstand die Tragfähigkeitsberichte aufgrund welcher aktueller Veränderungen angepasst werden müssen, und damit auch, dass sich das BMF sehr wohl darüber bewusst zu sein scheint, dass weit in die Zukunft reichende Schätzungen und Aussagen noch unsicherer sind, als kurzfristige Prognosen. Das BMF trägt dem mit Zwischenaktualisierungen Rechnung. Die folgende Aussage in flassbeck-economcis ist vor diesem Hintergrund schon einmal problematisch bzw. als reine Polemik zu werten (wobei ich grundsätzlich, solange eine Polemik begründet erscheint, dieses Instrument der Zuspitzung als legitim und der Entwicklung eines wissenschaftlichen Streits förderlich ansehe):

“Kaum jemand wird bestreiten wollen, dass ein solcher Versuch Karl Schillers, im Jahr 1972 die deutsche Staatsschuldenquote in 44 Jahren, also für das Jahr 2016, vorausberechnen zu wollen, hochgradig absurd gewesen wäre – und Schiller wäre vermutlich auch niemals auf eine so abstruse Idee gekommen. Ganz anders Finanzminister Wolfgang Schäuble, für den Prognosen über 44 Jahre offenbar kein Problem sind. Wie die Frankfurter Allgemeine, die Welt und das Handelsblatt übereinstimmend berichten, geht aus einem neuen ´Tragfähigkeitsbericht´ des Finanzministeriums hervor, dass bei ungünstiger Entwicklung der Schuldenstand des deutschen Staates bis zum Jahr 2060 kontinuierlich auf etwa 220 Prozent des BIP ansteigen werde. Statt aber den horriblen Unfug, die wirtschaftliche Entwicklung und die Staatsverschuldungsquote bis zum Jahr 2060 prognostizieren zu wollen, in Grund und Boden zu stampfen, schließen sich unsere Qualitätsmedien flugs den Sorgen des Bundesfinanzministers an:…”

Beides erscheint bei nüchterner Betrachtung nicht angemessen und damit auch nicht journalistisch oder gar wissenschaftlich: Sowohl von jemand anderem ohne eigene Prüfung, was denn der Gegenstand des Streits eigentlich bezwecken soll, zu verlangen, etwas “in Grund und Boden zu stampfen”, als auch, wie “Die Welt” und anscheinend auch die Frankfurter Allgemeine und das Handelsblatt, ohne eigene Prüfung und eigenes Hinterfragen, eine Staatsschuldenkrise herbeizuschreiben.

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Hätten die genannten Quellen und die ebenfalls bei flassbeck-economics zitierte Süddeutsche Zeitung selbst recherchiert, wüssten sie darüber hinaus, dass das BMF bzw. Schäuble Auftraggeber und Verkünder der wie auch immer zu interpretierenden Botschaft ist. Erstellt wird der Tragfähigkeitsbericht bzw. dessen Grundlage aber nicht vom Bundesfinanzministerium bzw., wie Martin Greive in “Die Welt” schreibt, von den “Volkswirten des Bundesfinanzministeriums”, sondern, zumindest in der jüngeren Vergangenheit, von Prof. Martin Werding, Ruhr-Universität Bochum, in Kooperation mit dem ifo Institut für Wirtschaftsforschung. Zu entnehmen ist dies unter anderem den Fußnoten und dem Literaturhinweis der letzten Zwischenaktualisierung in der Veröffentlichung des BMF wie auch dem beim ifo zugänglichen Forschungsbericht selbst. Das wird voraussichtlich auch beim neuen Tragfähigkeitsbericht der Fall sein. Denn wiederum zeigt unsere Recherche, die jedem offen steht, dass es hierfür eine öffentliche Ausschreibung gegeben hat. Die dafür formulierte Projektbeschreibung unterstreicht noch einmal, dass das BMF, zumindest in dieser Hinsicht, keineswegs so dämlich ist, wie in flassbeck-economics unterstellt:

“Projektbeschreibung

1. Titel des Forschungsvorhabens

´Modellrechnungen für den vierten Tragfähigkeitsbericht des BMF´

2. Ausgangslage, Forschungsbedarf

BMF legt einmal pro Legislaturperiode einen Bericht über die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen vor. Der vergangene dritte Tragfähigkeitsbericht basierte auf Berechnungen, denen der Rechtsstand und die Daten des Jahres 2010 zugrunde liegen. Im März 2014 erfolgte eine Aktualisierung auf Basis des Rechtsstands 1.1.2013. Entscheidende Faktoren haben sich seit Erstellung dieser Berechnungen verändert. So sind weitere politische Reformen umgesetzt worden, die die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen beeinflussen. Hierzu liegen im Frühsommer 2015 belastbare Ist-Ergebnisse vor, die eine Projektion der damit verbundenen Kosten der Alterung erlauben. Darüber hinaus hat sich die finanzpolitische Ausgangssituation bei einer stabilen wirtschaftlichen Lage weiter verbessert. Auch die Annahmen zur Bevölkerung ändern sich mit der für April 2015 terminierten neuen koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung von DESTATIS unter Berücksichtigung der Ergebnisse des Mikrozensus 2011 deutlich.

Um diese Veränderungen und ihre Auswirkungen auf die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen im vierten Tragfähigkeitsbericht dokumentieren zu können, ist eine umfassende Aktualisierung der langfristigen Tragfähigkeitsberechnungen erforderlich. Besondere Berücksichtigung sollen hierbei die mit den rentenpolitischen Gesetzen der Bundesregierung implizierten Kosten der Alterung finden. Die Veröffentlichung des ressortabgestimmten vierten Tragfähigkeitsberichts des BMF ist möglichst für Oktober 2015 vorgesehen.”

Wir erfahren am Rande also sogar, dass das BMF bzw. das von ihm beauftragte Institut im Verzug ist. Dafür kann es durchaus berechtigte Gründe geben. Man denke nur an die Berücksichtigung der Flüchtlingszahlen. Da dem neuen, noch unveröffentlichten Tragfähigkeitsbericht laut der Leistungsbeschreibung, die Teil der Projektbeschreibung ist, die bereits dem vorangegangenen Tragfähigkeitsbericht “zugrunde gelegten langfristigen Modellrechnungen” dienen sollen, ist es sogar wahrscheinlich, dass es erneut Prof. Werding in Kooperation mit dem ifo Institut sind, die ihn erstellt haben. Das allein ist hinterfragens- bzw. kritisierenswert: das immer wieder derselbe Auftragnehmer den Zuschlag erhält, in Kooperation mit einem durchaus ideologisch einseitig ausgerichtetem Forschungsinstitut. Der FAZ-Wirtschafts-Redakteur Philip Plickert stellt dem neuen Leiter des ifo Instituts, Clemens Fuest, das Zeugnis aus: “Sein Ideal ist ein schlanker, aber funktionsfähiger Staat.” Eine Einschätzung, die sicherlich auch auf seinen noch berühmteren Vorgänger, Hans Werner Sinn, zutreffend sein dürfte. Fuest ist ein ausgesprochener Befürworter der deutschen, mittlerweile im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse und des europäischen Fiskalpakts (siehe zum Beispiel hier). Der hier skizzierte Gesichtspunkt kann genauso relevant sein, wie der Inhalt des Auftrags selbst, die Methode und die zugrundegelegten Annahmen durch Prof. Werding und das ifo Institut.

Interessant ist aber allein schon, dass der Forschungsbericht selbst nicht den Anspruch erhebt “konkrete (relative) Eintrittswahrscheinlichkeiten” zu ermitteln, sondern lediglich eine “Bandbreite möglicher zukünftiger Entwicklungen”, die es “bei aktuellen finanzpolitischen Entscheidungen schon heute im Blick zu behalten” gelte:

“Zwar lassen sich keinem der in der Studie betrachteten Szenarien konkrete (relative) Eintrittswahrscheinlichkeiten zuordnen. Die durch die Basisvarianten aufgezeigte Bandbreite möglicher zukünftiger Entwicklungen – sowie einige in Alternativvarianten beleuchtete Unsicherheiten – zeigen aber an, dass die Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie die Finanzpolitik in Deutschland in den kommenden Jahren und Jahrzehnten vor großen Herausforderungen steht. Diese sind bei aktuellen finanzpolitischen Entscheidungen schon heute stets im Blick zu behalten.”

Schon der Anspruch der Studie gibt also gar nicht das her, worüber sich die oben aufgegriffenen Protagonisten aufregen. Wäre es nicht journalistische Aufgabe gewesen, einer möglichen Instrumentalisierung durch das BMF bzw. des Bundesfinanzministers schon auf dieser Grundlage anzukreiden, anstatt sich genau für eine solche Instrumentalisierung herzugeben bzw. sie unfundiert zu behaupten; und wäre es nicht Aufgabe einer kritischen Wissenschaft, bei entsprechender Missachtung dieser Aufgabe durch die Journalisten, über Anspruch und Aussagekraft der Studie bzw. des Tragfähigkeitsberichts aufzuklären, anstatt zu verlangen, diese ungelesen sogleich als “Unfug” in “Grund und Boden zu stampfen”? Was spricht darüber hinaus grundsätzlich gegen eine solche Vorgehensweise, wie sie das BMF und die ausführenden Forscher gewählt haben? Ich meine nichts. Im Gegenteil. Entscheidend für eine Kritik ist dann doch wohl, unter welchen Vorzeichen eine solche Studie erstellt wird. Das kann nur eine Analyse der Studie selbst leisten, die nicht Gegenstand dieses Beitrags sein soll, weil sie ihn überfrachten würde.

Unabhängig davon, zu welchem Ergebnis und zu welcher Bewertung die darüber hinausgehende Analyse des Tragfähigkeitsberichts und des diesem zugrundeliegenden Forschungsberichts führt, erscheint mir die hier vorgenommene Korrektur wichtig: Erstens, nimmt der Blick in die Originalquellen und ihre Historie sowohl den offensichtlich BMF-hörigen Journalisten – die doch an sich als “vierte Gewalt” wirken sollen – den Wind aus den Segeln, als auch denjenigen, die von anderen verlangen etwas ungeprüft in “Grund und Boden zu stampfen”. Und zwar auf Basis derselben, vom BMF offen einsehbaren Inhalte. Zweitens, machen schon die oben zitierten Passagen neugierig, welche Methode und welche Einflussfaktoren denn genau eine Rolle spielen, und ob es Widersprüche innerhalb der Analyse gibt, vielleicht sogar zentrale Überlegungen, die die Ergebnisse des Tragfähigkeitsberichts losgelöst von den vom BMF immer wieder berücksichtigten Gesetzesänderungen infrage stellen.

Abschließend sei auf noch einen überraschenden Befund aus dem Text in flassbeck-economics hingewiesen, der wohl nur dem Eifer des Gefechts geschuldet sein kann, wenn es dort heißt: “Das Budgetergebnis ist aber nicht einfach vom ´Sparwillen´ des Staates abhängig, sondern wird größtenteils endogen durch die konjunkturelle Entwicklung bestimmt und liegt damit weitgehend außerhalb der Kontrolle des Staates.” Seit wann aber liegt die konjunkturelle Entwicklung “weitgehend außerhalb der Kontrolle des Staates” und damit außerhalb dessen “Sparwillens” oder auch “Ausgabewillens”? Soweit geht nicht einmal die Deutsche Bundesbank in ihrem gerade veröffentlichten Monatsbericht, der eine ausführliche Analyse der Staatsfinanzen enthält.


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