Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat am 29. Februar unter der Überschrift “Gerecht verteilen – Wohlstand sichern” einen Verteilungsbericht vorgelegt. Er enthält viele interessante Angaben über die Einkommens- und Vermögensverteilung. Auf seinem ureigensten Feld, der Lohnentwicklung, aber schlampt der DGB. Oder redet er gar vorsätzlich die Lohnentwicklung und die Situation am Arbeitsmarkt schön, um seine äußerst bescheidenen Ergebnisse auf dem Gebiet der Lohnentwicklung und des Mindestlohns ins Positive zu wenden? Dieser traurige Befund liegt auch in der Definition des Verteilungsspielraums begründet, die der DGB in seinem Bericht vornimmt.
Der Verteilungsspielraum, so der DGB, “setzt sich aus der Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität (reale Bruttowertschöpfung je Erwerbstätigenstunde) und der Preisentwicklung zusammen. Die Summe aus Preis- und Produktivitätssteigerung ergibt den neutralen Verteilungsspielraum.”
Diese Definition aber ist – wie wir in verschiedenen Beiträgen bereits festgestellt haben – problematisch: Bei einer sich abschwächenden Preisentwicklung bzw. bei sinkenden Inflationsraten oder sogar fallenden Preisen (Deflation) würden sich – bei unveränderter Entwicklung der Arbeitsproduktivität – demnach der Verteilungsspielraum und damit wahrscheinlich auch die Lohnforderungen des DGB verringern. Entwickelt sich beispielsweise die Arbeitsproduktivität über drei Jahre konstant positiv, indem sie jährlich um ein Prozent steigt, die Preisentwicklung aber sinkt von von 2 Prozent im ersten Jahr auf ein Prozent im zweiten Jahr und im dritten Jahr weiter auf 0,5 Prozent, sinkt der Verteilungsspielraum in diesem Zeitraum von jährlich drei Prozent auf 1,5 Prozent, halbiert sich also allein aufgrund der Preisentwicklung.
Orientiert sich die Lohnentwicklung daran, halbieren sich auch die Lohnforderungen. Die dadurch beeinträchtigte Lohnentwicklung beeinflusst erfahrungsgemäß ihrerseits die Preisentwicklung und drückt diese weiter nach unten. Eine deflationäre Entwicklung wäre die Folge.
Die Entwicklung in umgekehrter Richtung ist nicht minder fatal, jedenfalls dann, wenn die Inflation bereits das aus Stabilitätsgründen gewählte Inflationsziel überschritten hat. Eine inflationäre Entwicklung wäre die Folge.
Um dies zu vermeiden, sollte sich die Lohnentwicklung am Produktivitätsfortschritt und dem Inflationsziel orientieren und nicht an der tatsächlichen Inflation, die der DGB für die Berechnung des Verteilungsspielraums zugrundelegt.
Diesem Sachverhalt kommt seit der Einführung des Euro umso größere Bedeutung zu. Denn mit der Entstehung der Europäischen Währungsunion (EWU) ist eine identische Inflationsrate in den dazugehörigen Ländern zur entscheidenden Größe für die Wettbewerbsfähigkeit innerhalb dieser Staatengemeinschaft geworden. Fallen Länder dauerhaft hinter das gemeinsam festgelegte Inflationsziel von “unter, aber nahe zwei Prozent” zurück, werden sie gegenüber anderen Ländern, die das Inflationsziel einhalten oder aber überschreiten, wettbewerbsfähiger. Außenwirtschaftliche Ungleichgewichte sind die Folge. Der vorher mögliche Ausgleich über eine Abwertung der eigenen Währung ist bei einer gemeinsamen Währung nicht länger möglich. Basiert das Unterschreiten des Inflationsziels auf einer nicht verteilungsneutralen Lohnpolitik (hier nach unserer oben getroffenen Definition, also unter Berücksichtigung des Inflationsziels), wirkt sich dies nicht nur auf Wachstum und Beschäftigung im Inland negativ aus, sondern auch auf die Nachfrage des so handelnden Landes gegenüber seinen Handelspartnern innerhalb der EWU. Die Löhne sind das mit Abstand wichtigste Nachfrageaggregat, wie wir verschiedentlich in anderen Beiträgen aufgezeigt haben.
Erstaunlich, dass dem DGB diese Problematik nicht geläufig zu sein scheint und er dadurch gegen die Interessen seiner Mitglieder, der Beschäftigten und Arbeitslosen insgesamt wie auch der anderen Länder der EWU verstößt. Erstaunlich auch deswegen, weil er selbst schließlich ebenda festhält: “Allerdings darf die Tatsache nicht darüber hinweg täuschen, dass die Ausschöpfung auch auf die geringe gesamtwirtschaftliche Arbeitsproduktivität (0,4 % bzw. 0,5 %) sowie die geringe Preisentwicklung (0,9 % bzw. 0,3 %) zurückzuführen ist, was sich in einen verhältnismäßig geringen Verteilungsspielraum (1,3 % bzw. 0,8 %) widerspiegelt. Somit ist die Überausschöpfung auch statistisch-methodisch bedingt.” Womit der DGB das von uns oben erläuterte Problem unterstreicht, das durch das Rechnen mit der tatsächlichen Preisentwicklung entsteht. Würde der DGB die von uns begründete Definition des Verteilungsspielraums zugrundelegen, würde er gar nicht erst in die Verlegenheit kommen, über jene Fehlentwicklungen “hinwegzutäuschen”.
Der DGB täuscht seine Leser – und sich selbst? – aber nicht nur in diesem Punkt. Er tut es auch mit Sätzen wie diesen: “Die erfreuliche Entwicklung der letzten Jahre ist maßgeblich ein Erfolg der Gewerkschaften.” Die Entwicklung ist nämlich gar nicht “erfreulich.” So hat 2015 nicht einmal die Entwicklung der tariflichen Stundenverdienste ohne Sonderzahlungen den von uns definierten Verteilungsspielraum ausgeschöpft, wie wie hier ausgerechnet haben. Umso interessanter, gerade heute vom Statistischen Bundesamt zu lesen, dass eben dieser Lohnindikator, die tariflichen Stundenverdienste ohne Sonderzahlungen, der Mindestlohnkommission zur Orientierung “bei der erstmaligen Anpassung des gesetzlichen Mindestlohns zum 1. Januar 2017″ dienen soll. Allein, dass der Mindestlohn erst zum Januar nächsten Jahres angepasst werden soll, kann man als Arbeitnehmervertreter doch wohl kaum als “erfreuliche Entwicklung” oder gar als “Erfolg” bezeichnen. Der Mindestlohn von 8,50 Euro lag schon bei seiner Einführung im Januar 2015, ja, sogar bereits im Jahr 2010, als er vom DGB noch lediglich gefordert wurde, unter dem Niedriglohnschwellenwert für Deutschland, den das Europäische Amt für Statistik, Eurostat, festlegt. Selbst aber, wenn sich der Mindestlohn auch nur ausgehend von der vom DGB viel zu niedrig angesetzten Mindestlohnforderung verteilungsneutral entwickelt hätte, läge er heute spürbar höher als 8,50 Euro (siehe hierzu zuletzt hier). Dass der Mindestlohn nicht nur zu niedrig angesetzt ist, sondern sich auch nicht verteilungsneutral entwickelt hat, bedingt sicherlich auch, dass er bisher auf die allgemeine Lohnentwicklung nicht positiv zu wirken scheint – was die sicherlich positive und begrüßenswerte Wirkung in einzelnen Wirtschaftszweigen wie der Gastronomie oder für viele ungelernte Arbeitnehmer nicht ausschließt. So wurde der von uns definierte Verteilungsspielraum zuletzt in den Jahren 2012 und 2013 deutlich, ja, mehr als ausgeschöpft; 2014 und 2015 waren demgegenüber schwache Jahre für die Beschäftigten. “Die Einführung des Mindestlohnes ist vor allem ein Erfolg der Gewerkschaften, die fast 10 Jahre für eine ´Anstandsgrenze nach unten´ gekämpft haben”, lobt sich der DGB selbst. Ich meine nicht, dass der Anstand bei 8,50 Euro gewahrt ist.
“Gerecht verteilen”, wie der DGB titelt, geht sicherlich anders. Gerechte Verteilung beginnt – zumindest was die Kernkompetenz der Gewerkschaften anbelangt – damit, den Verteilungsspielraum richtig zu definieren. Das hat der DGB, nach seiner eigenen Studie zu urteilen, bis heute ganz offensichtlich versäumt. Die Fehleinschätzung des DGB findet dabei unmittelbaren Eingang in dessen politischen Forderungskatalog. So heißt es am Ende des Berichts unter der Überschrift “Politische Schlussfolgerungen”: “1. Gute Einkommensentwicklung verstetigen”. Das hätten Bundesregierung und Arbeitgeberverbände nicht besser formulieren können.
Problematisch ist schließlich auch die Bewertung der Situation am Arbeitsmarkt durch den DGB. “Tatsächlich ist die Arbeitsmarktlage erfreulich stabil”, attestiert der DGB. Wie aber kann man – zumindest aus Arbeitnehmerperspektive – die “Arbeitsmarktlage erfreulich stabil” finden, wenn die Arbeitslosenquote mit über sechs Prozent mehr als doppelt so hoch liegt, wie der Wert, den das ehemalige Mitglied des Sachverständigenrats, Claus Köhler, als Vollbeschäftigung definiert (3%), Millionen in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten, ihr Gehalt “aufstocken” müssen und die Bundesregierung davon ausgeht, dass die Arbeitslosenquote in diesem Jahr unverändert hoch bleibt, um nur einige Fehlentwicklungen am Arbeitsmarkt zu nennen. Auch hier beginnt der DGB, nachdem er seine Freude über die herrschenden Zustände kund getan hat, diese Aussage wieder zu relativieren, indem er verschiedene Probleme anspricht. Bestenfalls aber lässt er den Leser damit ratlos zurück.
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