Stefan Kuzmany leitet bei Spiegel online den Bereich Meinung und Debatte. Die Meinung, die er darin gerade gestern kundgetan hat, ist nicht weniger abschreckend, als die jüngsten Ereignisse in Dresden zum Tag der deutschen Einheit, die Wahlerfolge der AfD bei den jüngsten Landtags- und Kommunalwahlen in Ost- und Westdeutschland und das Wiederauflammen von Pegida. Kuzmanys Meinung rüttelt an den Grundfesten der Demokratie.
Kuzmany schließt aus seiner Betrachtung der Ereignisse in Dresden: “Diese Leute betrachten sich als abgehängt? Sie sind es. Und das ist auch gut so.”
Kann das ein Demokrat wollen?
Kuzmany unterstellt den Protestierenden in Dresden eine “bizarr verschobene Realität”. Und in einem Punkt hat Kuzmany sogar recht: “Sie leben offenbar in einem anderen Land als die Mehrheit der Deutschen.” Das stimmt ja durchaus. Einer Mehrheit der Deutschen geht es nach allem was wir wissen gut oder zumindest empfinden sie es so. Diese Mehrheit ist aber in den zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten geschrumpft. Es gibt genügend Hinweise, dass ein großer Teil der Bevölkerung seine eigene Lebensqualität als “weniger gut” oder “gar nicht gut” einstuft. So zum Beispiel das Ergebnis einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach aus dem September (siehe dazu hier). Diese Einschätzung erscheint durchaus realistisch, berücksichtigt man die allgemeine Lohnentwicklung der vergangenen zehn bis fünfzehn Jahre, die Ausbreitung prekärer, die Existenz nicht sichernde Beschäftigungsverhältnisse, die geschwundene öffentliche Daseinsvorsorge, die unter anderem in den Milliardenrückständen bei den Investitionen in die öffentliche Infrastruktur zum Ausdruck kommt, und die nach wie vor sehr hohe Arbeitslosigkeit und noch höhere Unterbeschäftigung. Nach Umfragen von infratest dimap rekrutiert sich ein Großteil der AfD-Wähler aus den davon Betroffenen oder denjenigen, die sich davor ängstigen es zu werden: Arbeitslose und Arbeiter (siehe hierzu auch unsere Wahlanalysen, zuletzt hier und hier). Einsichten, denen sich Spiegel online und andere Leitmedien nicht selten verweigern und stattdessen in bewundernswerter Schlichtheit beispielsweise immer wieder das Bild eines boomenden Arbeitsmarktes präsentieren. In lichteren Augenblicken war allerdings auch schon in Spiegel online zu lesen: “Jobboom stoppt steigende Armut nicht“. Das war vor drei Jahren. Der jüngste Datenreport 2016 des Statistischen Bundesamts liefert kein positiveres Bild. Darin heißt es unter anderem:
“Alle Armuts-Indizes erhöhten sich in der letzten Dekade, das Ausmaß an Niedrigeinkommen und Armut stieg zum Ende der letzten Dekade auf eines der höchsten Niveaus der letzten beiden Jahrzehnte an; zugleich entfernten sich die Einkommen der Armen immer weiter von der Armutsschwelle und die Intensität der Armut verstärkte sich. Nach 2010 setzte sich dieser Trend indes nicht in gleicher Weise fort: Armuts- und Ungleichheitsziffern stagnieren derzeit − allerdings auf höherem Niveau als noch in den beiden Dekaden zuvor. Dies gilt gleichermaßen für die Intensität von Einkommensarmut bei Monats- und Jahreseinkommen.”
Vor rund einem Jahr meldete das Statistische Bundesamt bereits, dass über zwanzig Prozent der deutschen Bevölkerung von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht sind (siehe hier). Das ist jede fünfte Person in Deutschland.
Kuzmany macht es sich zu einfach, wenn er daraus resultierenden, berechtigten Ängsten vieler Menschen – von denen die meisten immer noch schweigen und sich auch nicht irgendwelche dumpfen fremdenfeindlichen Parolen zu eigen machen – mit den diffusen bis hin zu fremdenfeindlichen, rassistischen, rechtsextremen Äußerungen, Ausschreitungen und Gewalttaten in einen Topf wirft, um gleich allen ein wahnhaftes Verhalten anzuheften. Und selbst, wenn Kuzmany recht hätte, wäre dies etwa eine Rechtfertigung dafür, seine Schlussfolgerung zu ziehen: “Diese Leute betrachten sich als abgehängt? Sie sind es. Und das ist auch gut so.” Kann es sich eine demokratisch organisierte Gesellschaft leisten, diese Menschen zu ignorieren, sie zurückzulassen? Die Wahlergebnisse der AfD, die ich als genauso unangenehm empfinde wie Kuzmany, sprechen allein schon dagegen. Noch mehr aber das demokratische Grundverständnis, dass möglichst niemand zurückbleiben darf in unserer Gesellschaft.
Es hätte niemals so weit kommen dürfen, wie es jetzt schon gekommen ist. Dies und wie es dazu kommen konnte berührt Kuzmany nicht. Diese Blindheit und gesellschaftliche Verantwortungslosigkeit, die fehlende Neugierde, den Ursachen für diese Entwicklung auf den Grund zu gehen, teilt Kuzmany mit einer großen Zahl von Journalisten und Politikern (siehe hierzu zuletzt auch hier). Das ist Teil des Problems, das Kuzmany meint sich selbst überlassen zu können.
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