Auszug aus dem Newsletter November 2016

Liebe Abonnentinnen und Abonnenten,

die Zeit nimmt unerbittlich ihren Lauf. Jetzt schreiben wir schon wieder November. Aber was heißt unerbittlich; ist es nicht vielmehr großzügig, uns so viel Abwechslung zu bieten, vier Jahreszeiten in nur zwölf Monaten? Haben Sie schon die goldenen Farben oder den Duft des Herbstes genießen können? Bei einem Spaziergang vielleicht oder auf dem Weg zur Arbeit? Oder hat Ihnen die Zeit keine Zeit dafür gelassen? Ich jedenfalls genieße auch diese Jahreszeit, zu der sich viele in ein Flugzeug setzen, um ihr zu entfliehen. Einige, um nach der Rückkehr dann prompt für eine intakte Umwelt zu demonstrieren. Ach ja, das Leben ist voller Widersprüche.

Einen angekündigten Beitrag bin ich Ihnen vielleicht ja auch deswegen schuldig geblieben, weil ich dem Herbst schon etwas Zeit gewidmet habe. Wie leben, lautete die Frage. Meine Antwort: Vielseitig bleiben. Vielseitig zu bleiben ist aber immer auch sehr anstrengend, dann jedenfalls, wenn man sich zugleich dem Broterwerb widmen muss, der immer noch den Großteil unserer Zeit vereinnahmt, obwohl die Produktivität, mit der wir unsere tägliche Arbeit verrichten, dank des technischen Fortschritts doch um ein Vielfaches gestiegen ist. Sicherlich, die Arbeitszeit ist in der langen Frist gesunken, aber spüren wir das in unserem Alltag überhaupt? Sehnen wir uns nicht alle nach etwas mehr Freizeit, die wir sinnvoll nutzen können? Sei es zur Selbstverwirklichung, um anderen Gutes zu tun, zur Muße? Davon dürften doch die meisten von uns zu wenig haben: Freizeit. Oder aber, unfreiwillig, zu viel. Denn sind wir arbeitslos oder unterbeschäftigt, fehlt uns zumeist das Geld, um sorglos anderweitig Sinn zu stiften. Und für Muße lässt Hartz IV erst recht keine Zeit. Die Ämter werden ja nicht automatisch zu “Dienstleistern”, nur weil sie sich jetzt so nennen. Vielleicht sind sie diesem Anspruch sogar früher stärker gerecht geworden, ohne die vielen Auflagen, ohne den gesetzlichen Druck im Nacken. Die Arbeitslosen, egal ob Arbeitslosengeld I oder II sind nicht Könige, sondern Gefangene, Ausgelieferte, vogelfrei gegenüber einem System, das sie aushorcht, ihnen Termine setzt, sie zwingt eine Arbeit anzunehmen, auch wenn diese nicht ihrer Qualifikation entspricht oder ihrem Gehalt, das sie zuvor verdient haben. Das dies auch anders ginge, haben wir zuletzt hier aufgezeigt. Ein Gesetz, das nur darauf wartet, in das Sozialgesetzbuch gegossen zu werden, um dem Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes Rechnung zu tragen, das Kräfteverhältnis am Arbeitsmarkt ausgewogen zu gestalten, die Lohnentwicklung zu stabilisieren, kurzum, das Leben und Zusammenleben zu verschönern.

Was aber heißt vielseitig leben? Diese Frage lässt sich am Ende wohl nur individuell beantworten. Allgemein aber heißt es nach meinem Verständnis, neugierig zu bleiben, Interessen nachzugehen, neue Dinge auszuprobieren und alte wieder neu zu beleben, immer wieder auszubrechen aus dem Alltagstrott, neue Lebensentwürfe zu planen, dem Leben neue Wendungen zu geben. Wann haben Sie zuletzt etwas ganz neues ausprobiert, sich an etwas neues herangetastet oder etwas längst vergessenes wiederbelebt? Ich versuche gerade, neben meiner Arbeit als Volkswirt und Journalist, die mich fürwahr Vollzeit beschäftigt, noch Klavier zu spielen – das Wohltemperierte Klavier ganz von vorn, Takt für Takt –, jeden Tag etwas Sport zu treiben und zweimal in der Woche im Verein zu trainieren, einen Pullover zu stricken (höchste Zeit, dass sich der Mann hier wieder emanzipiert), neue Rezepte in der Küche auszuprobieren, nach einem passenden Rahmen zu suchen, um, neben meinem Hund, auch mit anderen Vierbeinern tiergerecht zu arbeiten, Pferden zum Beispiel. Das alles ohne viel Geld und andere materielle Mittel. Demnächst soll auch endlich einmal wieder der ein oder andere Theater- und Opern-Besuch hinzukommen. Das alles zeigt mir schon, wo meine Grenzen liegen, aber eben auch, dass diese nicht unveränderbar sind. Auch gilt es bei alldem Vorsicht walten zu lassen, und der Vielseitigkeit nicht die Gründlichkeit zu opfern, die erforderlich ist, um einen Gegenstand zu vertiefen. Manchmal setzt letzteres wiederum eine lange Phase der Einseitigkeit geradezu voraus. Sonst hätte ich beispielsweise das Fach Volkswirtschaftslehre gar nicht so intensiv, um nicht zu sagen borniert, studieren können. Auch das kann erfüllend sein. Man merkt es daran, dass man andere Dinge gar nicht vermisst – die dann aber vielleicht irgendwann wieder zum Vorschein kommen oder neu entdeckt werden wollen. Alles hat seine Zeit, alles braucht seine Zeit. Wenn Sie Lust und Zeit haben, schreiben Sie mir Ihre Gedanken dazu.

Doch jetzt erst einmal wieder ans berufliche Tagwerk. Hier die PIN für den Monat November 2016:

xxx (nur für Abonnenten)

Genießen Sie den November, herzliche Grüße,

Florian Mahler

www.wirtschaftundgesellschaft.de


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