Arbeitslosigkeit – strukturell oder konjunkturell bedingt? Zur Aussagekraft der Beveridge-Kurve

Die Arbeitslosigkeit in der Europäischen Währungsunion (EWU) ist immer noch sehr hoch. Die Diskussion in Politik, Wissenschaft und Medien über die Ursachen der Arbeitslosigkeit hält an. Das hat unmittelbaren und mittelbaren Einfluss auf die politischen Versuche, die Arbeitslosigkeit zu überwinden. Die Situation am Arbeitsmarkt bestimmt schließlich auch über den sozialen Frieden. Ist die Arbeitslosigkeit hoch und verhindert die Politik, dass diejenigen, die Arbeit haben, davon auch existieren und am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, gefährdet dies ab einem gewissen Grad den sozialen Frieden und die parlamentarische Demokratie. Dieser Grad scheint in vielen Ländern längst erreicht. Das zeigen nicht zuletzt die Erfolge radikaler Parteien und das in repräsentativen Umfragen immer wieder bestätigte Gefühl eines erheblichen Teils der Bevölkerung, abgehängt zu sein. In diesem Zusammenhang sind auch Veröffentlichungen des europäischen Amts für Statistik, Eurostat, interessant, die beispielsweise erst jüngst darüber informierten, dass rund jeder sechste Arbeitnehmer in der EU und in der EWU im Niedriglohnsektor beschäftigt ist. Deutschland schneidet mit einem Anteil von 22,5 Prozent besonders schlecht ab. In Schweden sind es nur 2,6 Prozent. Eine andere Meldung von Eurostat informierte ebenfalls erst diesen Monat darüber, dass es sich mehr als jeder zehnte in der EU nicht leisten kann, mit Freunden oder der Familie etwas trinken zu gehen, jeder sechste kann nicht an Freizeitaktivitäten teilnehmen. Auch hier schneidet Deutschland mit 14,3 Prozent schlechter ab, als der EU-Durchschnitt (13%). In Schweden sind es 0,8 Prozent.

Wir haben in Analysen seit langem darauf hingewiesen, dass die Konjunktur – das Wirtschaftswachstum bzw. die Zuwachsrate des realen Bruttoinlandsprodukts – entscheidend für die Entwicklung der Arbeitslosigkeit bzw. Beschäftigung ist. Das bestätigt regelmäßig auch unsere monatliche Konjunkturanalyse auf der Basis von Arbeitsmarktdaten, ob für Deutschland, Frankreich, die EWU als Ganzes, die Schweiz, Griechenland, Großbritannien. Hierzu dient uns die vom Ökonomen und ehemaligen Mitglied des Sachverständigenrats, Claus Köhler, entwickelte Spannungszahl, die die Entwicklung der Differenz zwischen der Zahl der offenen Stellen (Arbeitsnachfrage) und der Zahl der Arbeitslosen (Arbeitsangebot) misst. In einer einfacheren Variante kann und muss aufgrund fehlender oder nicht zeitnah veröffentlichter Daten die Zahl der Arbeitslosen als Berechnungsgrundlage dienen. In einer erweiterten Variante werden die Kurzarbeit oder die Zahl der Erwerbstätigen, die aus konjunkturellen Gründen weniger arbeiten müssen, als sie tatsächlich wollen, mit in die Berechnungen einbezogen.

In den USA wird der Zusammenhang von Konjunktur und Arbeitslosigkeit von denjenigen, die an den entscheidenden politischen Schalthebeln sitzen, erkannt und anerkannt. Er bildet eine wichtige Grundlage für wirtschafts- und geldpolitische Entscheidungen. Anders als die Europäische Zentralbank (EZB) hat ihr Pendant in den USA, die Federal Reserve (Fed), ein Beschäftigungsziel (maximum employment) und ein Inflationsziel. Die EZB hat nicht nur kein entsprechendes Beschäftigungsziel, sie hat auch die Arbeitslosigkeit immer wieder vornehmlich, wenn nicht ausschließlich, mit so genannten strukturellen Ursachen versucht zu erklären. Entsprechend unterschiedlich waren und sind die wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen und Empfehlungen und die praktische Wirtschaftspolitik in beiden Währungsräumen. Der Präsident der EZB, Mario Draghi, begründet in seinen Pressestatements zu den aktuellen geldpolitischen Entscheidungen die Arbeitslosigkeit seit Jahren strukturell, erläutert darin aber nicht näher, was genau er damit meint. Auch in Deutschland wird die Arbeitslosigkeit seit langem strukturell begründet. Der Zusammenhang von Konjunktur und Arbeitslosigkeit spielt dagegen genauso wenig eine Rolle wie ein konkretes Beschäftigungsziel.

In der Volkswirtschaftslehre – und auf Basis der von ihr veröffentlichten Analysen auch in Politik und Medien – wird zum Nachweis struktureller Arbeitslosigkeit häufig die so genannte Beveridge-Kurve herangezogen, die ebenfalls Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage abbildet. Erst gestern wurde ich über twitter auf eine entsprechende Studie aus Österreich aufmerksam gemacht. Ein erhebliches Manko dieser Studie liegt darin begründet, dass sie nicht die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits seit längerem vorliegenden Argumente berücksichtigt, die insbesondere US-Ökonomen gegen die Aussagekraft der Beveridge-Kurve ins Feld führen, darunter der Wirtschaftsnobelpreisträger Peter A. Diamond. Der ehemalige US-Notenbank-Präsident, Ben Bernanke, hat schon 2012 die Aussagekraft der Beveridge-Kurve in Frage gestellt. Selbst Draghi hat zuletzt auf den wesentlichen Zusammenhang von Konjunktur und Beschäftigung verwiesen. Und, wie unsere Rechercheergebnisse unten zeigen, hat Draghi sogar bereits 2014 – in einer Rede vor Notenbankern in den USA wohlgemerkt – den zentralen Einfluss der Konjunktur für die Entwicklung am Arbeitsmarkt in der EWU hervorgehoben. Er hat sich dabei auch auf Untersuchungen der EZB zur Beveridge-Kurve bezogen. Und er macht darin am Ende sogar den Erfolg von Strukturpolitik von der Konjunktur bzw. der Gesamtnachfrage abhängig. In seinen Pressemitteilungen zur Geldpolitik aber hat er seitdem weiterhin ausschließlich auf strukturelle Arbeitslosigkeit abgestellt.

Es ist nicht überraschend, dass die Medien gerade in Deutschland, wo die Bundesregierung und die große Mehrheit ihrer wissenschaftlichen Berater in dasselbe Horn stoßen, Strukturreformen am Arbeitsmarkt als Allheilmittel für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in den Mittelpunkt ihrer Berichterstattung stellen. Der Zusammenhang von Konjunktur und Arbeitslosigkeit wird dagegen weitgehend, wenn nicht vollständig ausgespart. Dabei springt dieser geradezu ins Auge, sobald man die offiziellen Statistiken prüft, die jeder einsehen kann. Nicht minder prekär ist es, wenn aus der Statistik vorschnelle Schlussfolgerungen gezogen werden, und sei es nur um die eigene Politik zu bestätigen, wie es die Bundesregierung gerade erst in einer ihrer Veröffentlichungen getan hat – mit Verweis auf die Beveridge-Kurve:

“Der deutsche Arbeitsmarkt befindet sich in einer strukturell deutlich günstigeren Verfassung als noch in den 2000er Jahren. Dies zeigt die Entwicklung der so genannten Beveridge-Kurve, die die Zahl der gemeldeten Arbeitslosen der Anzahl offener Stellen gegenüberstellt. In den frühen 2000er Jahren lag die Kurve weit rechts. Die Arbeitslosigkeit war hoch. Gleichzeitig gab es eine große Zahl offener Stellen. Viele Stellen blieben trotz vieler Arbeitsloser unbesetzt. Das hat sich in den letzten Jahren deutlich geändert: Bei einer bestimmten Zahl an offenen Stellen sind nun weniger Personen arbeitslos, die Kurve hat sich nach links verschoben. Nicht zuletzt durch die Hartz-Reformen hat sich der Ausgleich zwischen Arbeitsangebot und -nachfrage deutlich verbessert.”

Zur Vergrößerung auf Graphik klcken.

Warum aber ist die Korrelation zwischen Konjunktur und Arbeitslosigkeit vor wie nach den Jahren der Hartz-Reformen äußerst eng, wie der Verlauf der Zuwachsraten von realem Bruttoinlandsprodukt und der Zahl der Arbeitslosen sowohl für Deutschland insgesamt wie für Ost- und Westdeutschland zeigt? Dass sich das Verhältnis von offenen Stellen und Arbeitslosigkeit verbessert oder verschlechtert, kann auch allein durch die Konjunktur bedingt sein oder durch weitere Faktoren, wie beispielsweise die demographische Entwicklung.

Schlussfolgerungen, wie sie die Bundesregierung für Deutschland und Christl, Köppl-Turyna und Kucsera in der erwähnten Studie zur Beveridge-Kurve in Österreich ziehen, erscheinen daher vorschnell, weil sie wesentliche Überlegungen außer acht lassen, die die Wirtschaftswissenschaft seit längerem bereithält.

Finden solche Schlussfolgerungen bei den politisch Verantwortlichen Gehör, kann dies fatale Folgen für die wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Entwicklung haben. Auf ihrer Grundlage können falsche politische Maßnahmen ergriffen und richtige verhindert werden.

Wir gehen unten auf die Studie aus Österreich ein und stellen ihr die umfassenderen Erkenntnisse anderer Wirtschaftswissenschaftler gegenüber. Darüber hinaus prüfen wir für Österreich den Verlauf von Konjunktur und Arbeitslosigkeit rückblickend auf den Zeitraum seit Beginn der EWU im Jahr 1999. Schließlich gehen wir auf die erwähnte Analyse Draghis und der EZB zum Thema ein, deren Ergebnisse Draghi sträflicherweise bis heute nicht in seinen wirtschaftspolitischen Empfehlungen berücksichtigt…Arbeitslosigkeit – strukturell oder konjunkturell bedingt? Zur Aussagekraft der Beveridge-Kurve (vollständiger Beitrag im Abonnement)


Dieser Text ist mir etwas wert


Verwandte Artikel: