Im allgemeinen Sprachgebrauch ist Heterodoxie eine Lehre, die von der offiziellen Kirchenlehre abweicht. Für strenggläubige Vertreter der offiziellen Lehre (griechisch orthodoxía=Rechtgläubigkeit, Strenggläubigkeit) ist Heterodoxie dann auch gleichsam eine Irrlehre. Das griechische heterodoxía heißt aber zunächst einmal nur: verschiedene Meinung. Verschiedener Meinung sein, anderer Meinung sein (heterodoxein) zu dürfen erscheint aber nicht nur für das friedliche Zusammenleben innerhalb und zwischen verschiedenen Relegionsgemeinschaften existenziell. Für die Wissenschaft sind verschiedene Meinungen geradezu Voraussetzung dafür, alte Erkenntnisse zu prüfen und neue Erkenntnisse zu gewinnen. Was für die Naturwissenschaften heute aber selbstverständlich ist, scheint noch lange nicht für die Wirtschaftswissenschaften in Deutschland zu gelten, folgt man Arne Heise, Henrike Sander und Sebastian Thieme in ihrem Buch “Das Ende der Heterodoxie? Die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften in Deutschland”. Den großen Bogen spannend, differenziert und akribisch zugleich untersuchen die Wissenschaftler das komplizierte Geflecht, das darüber bestimmt, welche Lehre zur herrschenden wird.
“Die Dichothomie ´Orthodoxie/Heterodoxie´ basiert bereits auf dieser monotheoretischen Anschauung, indem die Orthodoxie zwar einen Mainstream und mitunter kritische Variationen innerhalb das Paradigmas erlaubt, darüber hinaus aber alternative Paradigmen als unseriös abtut und weitgehend ignoriert”, leiten die Autoren das Thema ein. Eine wesentliche Konsequenz daraus: “Während heterodoxe Ökonomen geradezu gezwungen sind, ihre Überlegungen in Auseinandersetzung mit dem Mainstream zu erarbeiten und somit sui generis Methoden- und Theoriepluralität gewährleisten – weshalb Pluralismus häufig mit dem Zusatz ´kritisch´ versehen wird -, verhalten sich orthodoxe Ökonomen zumeist völlig ignorant gegenüber ihren heterodoxen Kollegen, deren Arbeiten sie nicht kennen, jedenfalls aber nicht zitieren. Kommunikation und kritische Überprüfung der eigenen wissenschaftlichen Standpunkte ist somit im Mainstream auf enge Denkpfade festgeschrieben und daher faktisch weitgehend ausgeschlossen.”
Macht und Ohnmacht scheinen also in den deutschen Wirtschaftswissenschaften nah beieinander zu liegen. Das hat – wie die Autoren ebenfalls überzeugend aufzeigen – spürbare Folgen für die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in Deutschland. So könnten “Gewerkschaften in Deutschland gegenwärtig nicht auf viel Verständnis für ihre Themen und Interessen hoffen”, weil sie sich “mit einer breiten Ablehnung vonseiten akademisch ausgebildeter Ökonomen (in Politik, Verbänden und Medien) konfrontiert” sehen würden. So nachvollziehbar und gut diese Thesen in dem Buch von Heise, Sander, Thieme auch begründet werden, so sehr vermisst der kritische Beobachter der Gewerkschaften an dieser Stelle aber auch, dass die Autoren nicht die Leistung der akademisch ausgebildeten Ökonomen in den Gewerkschaften kritisch hinterfragen. Haben sich beispielsweise die akademisch ausgebildeten Ökonomen des DGB doch bis heute nicht dazu durchringen können, eine verteilungsneutrale Lohnentwicklung am Inflationsziel der Europäischen Zentralbank zu messen (siehe dazu hier). Kommt der mit dem Titel wissenschaftlicher Direktor ausgestattete akademisch ausgebildete Ökonom und Leiter des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), Gustav Horn, doch zu durchaus fragwürdigen Interpretationen der Lohnentwicklung – reagiert aber nicht auf Kritik (siehe dazu hier). Auch der Positionierung der Gewerkschaften zum Mindestlohn fehlt bis heute eine fundierte ökonomische Grundlage (siehe dazu hier). Und das kann ja durchaus, wie die Autoren überzeugend darlegen, eine Konsequenz der Orthodoxie in der deutschen Wirtschaftswissenschaft sein, deren Macht auch erheblichen Anpassungsdruck auf wissenschaftliche Karrieren ausüben kann. Hierzu stellen die Wissenschaftler unter der Überschrift “Regulierung des Wissenschafts-Marktes” kritisch fest: “Wer seine Karrierechancen unter diesen Bedingungen nicht gefährden will, muss sich des herrschenden Paradigmas bedienen und die im Rahmen dieses Paradigmas gerade aktuellen Fragestellungen bearbeiten – sich ´prostituieren´, wie es Bruno S. Frey nennt -, statt sein Erkenntnisinteresse und die als adäquat empfundene Methodik autonom zu wählen.” Gustav Horn dient den Autoren dann sogar als Beispiel dafür, was passieren kann, wenn man sich dieser Logik eben nicht beugt. Und tatsächlich war Horn ja wohl auch Opfer eines solchen Machtspiels, als er das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) verlassen musste. Das liegt jedoch mehr als zehn Jahre zurück. Auch das IMK arbeitet unter Gustav Horn heute mit dem Dynamisch-Stochastischen Gleichgewichtsmodell (häufig mit DSGM oder DSGE abgekürzt) der “Mainstream-Ökonomik”, und das durchaus erkenntnisreich (siehe zum Beispiel hier). Anders als die von den Autoren analysierten Institutionen, schließt das IMK jedoch andere Theorien und Methoden nicht aus, sondern führt sie zusammen, dient also zugleich der “Heterodoxie” in den Wirtschaftswissenschaften (siehe zum Beispiel hier). Auch wenn die Studie der Autoren durch die Hans-Böckler-Stiftung ermöglicht wurde, worüber die Autoren im Vorwort informieren, hätte eine kritische Würdigung der Gewerkschafts-Ökonomen – die ja nicht nur negativ ausfällt – in diesem Zusammenhang ein weiteres wichtiges Problemfeld benannt. Schließlich geht es den Autoren “nicht ein weiteres Mal darum, die Dominanz des ökonomischen Mainstreams zu beklagen, sondern nach den Determinanten des Scheiterns der ökonomischen Heterodoxie zu fragen.”
Diese Kritik tut dem großen Verdienst des Buches jedoch keinen Abbruch, denn es konzentriert sich vor allem auf die Ausbildung der Wirtschaftswissenschaften an den Universitäten in Deutschland und deren Rahmenbedingungen.
Am Anfang steht ein historischer Aufriss, der bis zu den Entwicklungen seit der Etablierung der Universitäten im 19. Jahrhundert zurückreicht und weiter führt über die Universitätsentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg, die Konsolidierung in den 1980er Jahren bis zur Entwicklung nach der deutschen Einheit. Schon die Überschriften der einzelnen Kapitel verraten dabei ein unheimlich breit angelegtes Spannungsfeld, dem die Autoren hervorragend Rechnung tragen: “Herkunft und Berufungspraxis”, “Mandarinentum und Ordinarienuniversitäten”, “Die Reformdiskussion in den 1960er Jahren , Gründungswelle und Studentenbewegung”, “Spezifische Zielsetzungen und einflussreiche Akteure”, “Die verschiedenen Typen von Reformmodellen in Deutschland zwischen 1960 und 1980″, “Prekäre Verhältnisse und Anpassung”, “Ostdeutsche Anpassung”, “Neue Governance-Strukturen und die Universität im Globalisierungsprozess”.
In diesen historischen Kontext wird schließlich auch die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften in Deutschland gestellt. Die Autoren argumentieren dabei auf wissenschaftstheoretischen, wirtschaftstheoretischen und wissenschafts- und machtsoziologischen Grundlagen. Der Leser erhält eine differenzierte Klassifikation der ökonomischen Paradigmen, die sich wohltuend von der pauschalen und wenig fundierten Ablehnung des “Mainstreams” durch einige populäre Kritiker unterscheidet.
Es folgt eine Darstellung der Entwicklung der heterodoxen Ökonomik innerhalb der deutschen Wirtschaftswissenschaft – und ihrer Marginalisierung. Hierzu bedienen sich die Autoren des Instrumentariums einer Feldanalyse in den Begriffen des französichen Soziologen Pierre Bourdieu. Damit gelingt es ihnen das Beziehungsgeflecht, in dem sich die Wirtschaftswissenschaft bewegt, in seiner ganzen Komplexität zu erfassen und zu untersuchen. Die Sorgfalt mit der die Wissenschaftler auch hier vorgehen, ist beeindruckend. Neben “Standortstrukturdaten” wie beispielsweise Lehrstühlen für Ökonomik und deren Ausstattung werden auch biografische Daten wie beispielsweise zur Habilitation, zur ersten Berufung, zur Stellung im Hochschulbetrieb zugrunde gelegt. Hierzu wurde auch ein Fragebogen entwickelt, der im Anhang des Buches ebenfalls veröffentlicht ist. Trotz größter Sorgfalt in der Vorgehensweise, warnen die Autoren vor leichtfertigen Verallgemeinerungen, kommen aber doch zu aussagekräftigen, gleichzeitig aber abgewogenen Aussagen, wie zum Beispiel dieser: “In fünf von zehn Standorten lässt sich im Jahr 2013 keine heterodoxe Ausrichtung mehr feststellen…Natürlich sollten diese Ergebnisse nicht leichtfertig verallgemeinert werden, schließlich beziehen sich diese Zahlen nur auf zehn universitäre Hochschulstandorte. Allerdings handelt es sich dabei um Universitäten, die mit ihrer Einschätzung als ´heterodox´ für ein besonders plurales bzw. positives Wissenschaftsklima stehen (sollen). Wenn aber selbst diese Standorte heute maximal 8,43% heterodoxe Berufungen ausweisen, dann lässt sich ungefähr erahnen, wie es an Universitäten aussehen muss, denen für gewöhnlich kein solch offenes Klima attestiert wird.”
Interessant auch, dass die Berufung von Professoren für den langen Zeitraum 1950 bis 2013 entsprechend untersucht wird, also eine Entwicklung ablesbar ist, wie sich der Pluralismus in den Wirtschaftswissenschaften der vergangenen rund 60 Jahre entwickelt hat.
Zu interessanten Ergebnissen führt auch die Untersuchung der Vergabe von Drittmitteln. Die Deutsche Forschungsgesellschaft (DFG) schneidet dabei nicht gut ab, wenn die Autoren resümieren: “Die entsprechenden Zahlen deuten also darauf hin, dass die maßgeblichen Gremien der DFG in denen über wirtschaftswissenschaftliche Forschungsförderung entschieden wird, offenbar orthodox besetzt sind; dass daher die heterodoxen Anträge dort auch in der Tendenz weniger Chancen auf Bewilligung haben und wie wichtig für die Heterodoxie deshalb die Alternativen zur DFG-Förderung sind.”
Schwer wiegen müssten für die DFG auch die folgenden Vorwürfe im Fazit des Buches, dem noch eine Untersuchung ausgewählter Fachbereiche an deutschen Universitäten am Beispiel der Standorte Bremen und Bonn vorangestellt ist: “Die Gemeinschaft der Wirtschaftswissenschaftler übte einen enormen Konformitätsdruck auf die heterodoxen Kolleginnen und Kollegen aus: Den Universitäten, an denen sie (überwiegend) beschäftigt waren, wurde über viele Jahre hinweg der Zugang zur Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) verweigert und heterodoxe Ökonomen bekleideten niemals einflussreiche Positionen innerhalb der Entscheidungsgremien der DFG, was zusammen gleichermaßen die Ausstattung mit ökonomischem wie sozialem und symbolischem Kapital erheblich reduzierte. Letzteres schlägt sich auch darin nieder, dass heterodoxe Ökonomen – geradezu erwartbar - schlechtere Chancen darauf haben, durch die DFG gefördert zu werden und somit auf alternative Drittmittelgeber angewiesen sind (z.B. die Hans-Böckler-Stiftung). Faktisch kann kritische Forschung – im Sinne von ´heterodox´ – derzeit nur noch über solche Drittmittelgeber realisiert werden.”
Das alles sind nur einzelne Facetten dieses tief schürfenden Buches. So zeigen die Autoren beispielsweise darüber hinaus auf, welche Auswirkungen diese Verhältnisse auf den wissenschaftlichen Nachwuchs haben.
Diese Buch bietet ein Fundament für eine offensichtlich längst überfällige Diskussion über die Entwicklung und den Stand der Wirtschaftswissenschaften in Deutschland. Ob es die Protagonisten in Wissenschaft und Politik, aber auch in den Medien aufhorchen lässt? Das Jahr ist ja noch jung.
Dieser Text ist mir etwas wert
|
|