Gestern hat sich der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, zur aktuellen Geldpolitik, zur Wirtschaftslage und zur Kreditentwicklung geäußert. Die EZB ließ den Leitzins und die darüber hinaus gehenden, expansiven geldpolitischen Maßnahmen zur Stützung der Konjunktur unverändert. Die zurückhaltende Einschätzung Draghis gibt auch keinen Anlass zu vermuten, dass sich dies so schnell ändert. Eine wesentliche Rolle für die zwar verbesserte, aber immer noch unbefriedigende Entwicklung der wirtschaftlichen Aktivität, die damit verbundene Unterauslastung der Produktionskapazitäten und die Unterschreitung des Inflationsziels von “unter, aber nahe zwei Prozent” scheint dabei für Draghi die Lohnentwicklung zu spielen.
Genauer, wie Draghi es ausdrückte: Die rückwärts gewandte Verhandlung der Nominallöhne, die sich an der tatsächlichen Inflationsrate orientiere, seit geraumer Zeit also an einer Inflationsrate, die weit unter dem Inflationsziel von “unter, aber nahe zwei Prozent” liegt. Draghi antwortete auf die Frage eines nicht namentlich genannten Journalisten wörtlich:
“What needs to be explained, however, is the flat and low profile of the underlying inflation. That needs to be explained, in a sense. That has to do mostly with the subdued nominal wage growth. There are many reasons, and some of them may be more important than others – it’s hard to say which is which – but basically the reasons that are behind this are certain structural changes that have taken place, one of which is certainly the backward-looking negotiation of nominal wages, looking as a sort of reference of inflation, looking at low inflation rates as a basis for current negotiations. But there are also other reasons.”
Dass der jedes “linken” oder gewerkschaftlichen Einflusses unverdächtige Chef der europäischen Notenbank diesen Zusammenhang explizit herstellt, ist für sich genommen bemerkenswert. Noch bemerkenswerter ist es allerdings vor dem Hintergrund, dass zumindest die deutschen DGB-Gewerkschaften diesen Zusammenhang nicht anerkennen, nein, nicht einmal erkennen (siehe dazu zuletzt hier). Darauf haben wir in den zurückliegenden Jahren immer wieder hingewiesen. Nur ein Beleg dafür ist der Verteilungsbericht des DGB, der in seinen veröffentlichten Berechnungen zum Verteilungsspielraum die tatsächliche Inflationsrate und nicht das Inflationsziel der EZB zugrundelegt. Erst jüngst stieß ich in einer Diskussionsrunde mit äußerst erfahrenen Gewerkschaftern mit meiner Begründung, dass die Lohnverhandlungen neben der Entwicklung der Produktivität eben jenes Inflationsziel der EZB und nicht die tatsächliche Inflationsrate berücksichtigen müssten, auf totales Unverständnis – aus der konkreten gewerkschaftlichen Verhandlungspraxis heraus. Der DGB, dessen Verhandlungsführer und leider auch dessen Forschungsinstitute können also nur von Draghi lernen.
Schließlich ist noch eines interessant an der Argumentation Draghis: Er selbst führt die gefallene bzw. niedrige Inflationsrate nicht nur auf eine “unterdrückte Lohnentwicklung” zurück, sondern sieht als Ursache dafür auch eben jene “Strukturveränderungen” (“structural changes”). Diese “Strukturveränderungen” aber empfiehlt er selbst seit Jahren und führt – ungeachtet des von uns immer wieder geprüften und festgestellten engen allgemeinen Zusammenhangs von Konjunktur und Arbeitslosigkeit – auch im gestrigen Pressestatement die verbesserte Konjunktur auf eben jene Strukturveränderungen zurück. Die Anstrengungen bei den Strukturreformen müssten entsprechend noch verstärkt werden (fette Hervorhebung im Original, T.H.):
“In order to reap the full benefits from our monetary policy measures, other policy areas must contribute much more decisively to strengthening economic growth. The implementation of structural reforms needs to be substantially stepped up to increase resilience, reduce structural unemployment and boost productivity and potential output growth.”
Wenn die so genannten Strukturreformen, deren Intensität Deutschland mit der Agenda 2010 vorgegeben hat, aber die Lohnentwicklung belasten, wie soll die Konjunktur in der Europäischen Währungsunion dann zu einem notwendigen und angemessenen Wirtschaftswachstum, zu Vollbeschäftigung, zu einem Inflationsziel von “unter, aber nahe zwei Prozent”, ja, auch zu ausgeglichenen Staatshaushalten und Staatsdefiziten wie ausgeglichenen Außenhandelsbilanzsalden finden? Das bleibt das Geheimnis nicht nur Draghis und der EZB, sondern auch der führenden Wirtschaftspolitiker, Wirtschaftswissenschaftler (zumindest in Deutschland) und Wirtschaftsjournalisten – und des DGB natürlich.
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