28. August 2006
Ich melde mich heute aus Berlin. Und zwar nicht zuallererst aus “Mitte”, dem Zentrum, dem Regierungsviertel, sondern aus dem Umland. Ich war in Köpenick, in Friedrichshagen, an der Löcknitz (hierzu siehe Theordor Fontane, Bd. II seiner “Wanderungen”, die Fußnote auf S. 283), in Rahnsdorf und in Woltersdorf. Und natürlich auch in Mitte, ja. In Berlin wird gewählt. In rund zwei Wochen. All überall an den Laternen- und Ampelmasten hängen sie, die Wahlplakate. Sie alle zeichnet eines n i c h t aus: ein Bezug zum Alltag der Menschen. Gesichter nur, mehr oder weniger ausdruckslos, ja, auch Lächeln, ja sogar Grinsen kann ausdruckslos sein. Eigenwerbung. Aber wo sind wir, das Volk? Wo ist das Plakat, das uns zum Anhalten zwingt, uns ausrufen lässt, ja, Mensch, das stimmt, da hat er oder sie Recht, das muss sich ändern, wirklich, oder, das haben die erreicht, toll! Doch nichts von alledem. Nur unter oder über dem feil gebotenen Kopf ein Spruch, ein Motto, das vor allem eines sagt: ich bin von einer Werbeagentur getextet. Ich stelle mir vor, ein Plakat, diagonal geteilt. In dem einen Dreieck das hier und jetzt, in dem anderen das Morgen. Fotos, das ist bestimmt schwierig, fangen Situationen ein, Alltagssituationen, in einer Schule, in einer Kita, in der Straßenbahn, im Altersheim usw. Weil ich das Wochenende in Köpenick weilte, der Hauptmann von…, Sie wissen schon, ich denke an den Gegensatz zwischen dem Staat auf der einen, und den Menschen auf der anderen Seite.
Der Alltagsminister
21. August 2006
Brauchen wir jetzt auch einen Urlaubsminister? Unser Finanzminister meint, wir müssten nun auch auf unseren Urlaub verzichten, um unseren Sozialstaat zu retten. Wird der Urlaub also schon bald nicht mehr zu unserem Alltag gehören? Das glaube ich nicht. Zu groß ist die unmittelbare Empörung in der Öffentlichkeit. Oder versucht die Politik hier erneut ein dickes soziales Brett zu bohren? Solange der Urlaub noch zu unserem Alltag gehört, fällt er natürlich in mein Ressort. Und aus dem Alltag heraus wage ich zu behaupten, die Menschen brauchen nicht weniger, sie brauchen mehr Urlaub. Wie sonst sollen sie, die Arbeit haben, die ständige berufliche Mehrbelastung mit etwas Erholung ausgleichen können? Wie sollen die, die schon lange keine Arbeit mehr haben oder von Arbeitslosigkeit bedroht sind, wieder Arbeit finden, wenn die, die Arbeit haben, weniger Urlaub nehmen dürfen, also länger arbeiten müssen? Mir fällt ein vielleicht alter aber dennoch aktueller Witz ein, den ich vor ungefähr einem Jahr aufgeschnappt habe. Erzählt von einem Banker! Jung, aber ausgenutzt und am Sinn des Malochens zweifelnd. „Ich habe noch von niemandem gehört, dessen letzten Worte am Sterbebett lauteten: ´Ach, hätte ich doch nur länger im Büro gesessen.“ Länger im Büro gesessen hat er dennoch weiterhin. Und vielleicht gibt es da draußen ja Menschen, die meinen, mit weniger Urlaub unseren Sozialstaat retten zu müssen, obwohl wir uns diesen Urlaub haben über Jahrzehnte leisten können und obwohl wir seitdem nicht unproduktiver und ärmer sondern produktiver und reicher geworden sind. Da fällt mir noch jemand ein. Dessen letzten Worte am Sterbebett lauteten: „Keiner hat mich verstanden, nur einer. Und der hat mich auch nicht verstanden.“ So der Philosoph Hegel laut Überlieferung durch Heinrich Heine. „Freiheit des Selbstbewußtseins; Stoizismus, Skeptizismus und das unglückliche Bewußtsein”, heißt ein Kapitel in seiner „Phänomenologie des Geistes”, und ich frage mich, ob in jüngerer Zeit irgend jemand schon einmal unseren Alltag und die aktuelle Politik im Werke Hegels gespiegelt hat? – Noch ein Gedanke: Stellen Sie sich einmal vor, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer würden jetzt im Gegenzug die Vier-Tage-Woche als Regelarbeitszeit fordern! Ich bin mir sicher, dass würde in der Gesellschaft auf mehr Zustimmung stoßen, als der Vorstoß von Herrn Steinbrück. Nun mal ran, liebe Meinungsforschungsinstitute, eine Umfrage bitte.
Ich saß am gestrigen Sonntag vor einem Café im Zentrum einer bekannten Stadt in Norddeutschland. Ich wollte die Zeit bis zur Abfahrt meines Zuges überbrücken und hatte hierzu ein Café ausgesucht, das so ein bisschen dem Zahn der Zeit entspricht. Über die Gleichschaltung von Cafés habe ich noch nichts gelesen, aber es war halt eines, dessen Marke sich, einige Jahre ist es jetzt doch schon her, wie ein Netz über diese Stadt, und nicht nur diese Stadt, ausgebreitet hat. Der Kaffee schmeckt – wie alles in diesem Café – in jedem Ableger und egal wo gleich. Zum Glück, gleich gut. An meinem Kaffee nippend, auf einem Schemel vor dem Café sitzend, wurde ich gewahr, wie ein schwarzes Cabriolet genau vor mir vorfuhr. Zwei jugendliche Damen stiegen aus. Schülerinnen vielleicht noch. Ein wenig aufgetragen wirkte das Ganze schön. Die Fahrerin des Wagens kam um das Auto herum und sprach laut zu sich selbstt: „Ich weiß gar nicht was ich eigentlich will.“ Offensichtlich stand ihr Getränkewunsch noch in Frage. Ich dachte aber automatisch, Mensch, diese Frage drückt doch eine viel grundsätzlichere Orientierungslosigkeit aus. So viel ist Darstellung, soviel Äußeres. Etwas darstellen zu wollen ist das Eine. Etwas zu sein oder etwas zu werden, selbst zu werden jedoch etwas ganz Anderes, viel Schwierigeres, Konfliktreicheres. Setzt das eine die Aufgabe des Anderen nicht geradezu voraus?
6. August 2006
„Über Gebühr“
Heute muss ich Ihnen einmal aus meinem eigenen Alltag berichten. Es würde mich allerdings wundern, wenn Ihnen die folgende, nun ja, Episode, nicht irgendwie bekannt vorkommt.
Im Februar – oder war es im März? – musste ich zum Zahnarzt. Eine voran gegangene Untersuchung hatte ergeben, dass ich eine Teilkrone bräuchte. Zahn und Wurzel bleiben erhalten. Ein kleines Stück Gold wird aufgesetzt. Zunächst musste ich jedoch zehn Euro Praxisgebühr entrichten. Es folgte eine Rechnung von über 200 Euro, die ich für das kleine Stück und dessen Anfertigung aufwenden musste. Der Betrag wäre noch höher ausgefallen, wenn ich nicht mit einem eigens durch das Gesundheitssystem dafür geschaffenen Bonus-Heftes hätte nachweisen können, dass ich regelmäßig zur zahnärztlichen Untersuchung gegangen bin. Über Jahre hatte mir meine Zahnärztin nun schon eine außergewöhnlich gute Zahnpflege attestiert und folglich vergeblich nach Löchern Ausschau gehalten.
Wie in vielen anderen sozialen Bereichen – spontan fällt mir ein, dass heutzutage Schulbücher privat erworben werden müssen, die wurden zu meiner Zeit noch unentgeltlich von der Schule zur Verfügung gestellt – fragte ich mich auch an dieser Stelle, warum wir für Gesundheit, Bildung und andere soziale Errungenschaften seit geraumer Zeit auch privat immer mehr Geld ausgeben müssen? Wenn unsere Gesellschaft doch nachweislich Jahr für Jahr reicher wird – wenn dieser Reichtum auch immer ungleicher verteilt ist, das sagt die nüchterne Statistik –, und wir in immer weniger Zeit und mit immer weniger Menschen immer mehr, also billiger produzieren?
– Vergangene Woche musste ich dann zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Ab und zu muss ich meine Ohren ausspülen lassen. Natürlich auch, damit ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, gut zuhören kann. Zwei Minuten hat das gedauert. Erneut zehn Euro Praxisgebühr. Denn das alte Quartal war ja bereits verstrichen. Ich gebe zu, dass mir das nicht einleuchtet. Es ärgert mich. Wie muss es erst Menschen gehen, die aufgrund irgendwelcher Krankheiten regelmäßig zum Arzt müssen. Letzte Woche habe ich glaube ich gelesen, dass die Menschen immer seltener einen Arzt aufsuchen, die Zahl der Arztbesuche ist seit Einführung der Praxisgebühr, also seit Januar 2004, um 13 Prozent zurückgegangen.
Statistik hin oder her! Ich will einfach nicht für etwas bezahlen, für das ich bereits Sozialbeiträge entrichte, die ich wiederum auch gern entrichte. Das nervt mich sprichwörtlich „über Gebühr“. Über Gebühr werden wir beansprucht. Warum sollte das so sein? Weder ist das für mich ein Plus an „Eigenverantwortung“ noch ein Gewinn an „persönlicher Freiheit“. Als solche Errungenschaften werden uns diese Veränderungen ja verkauft.
Ich gebe zu, ich sehne mich zurück nach besseren Zeiten. Viel lieber würde ich mich natürlich „nach vorne“ sehnen nach besseren Zeiten. Aber die Glocken läuten das Lied von mehr „Eigenverantwortung“ und „Freiheit“ ja immer lauter. Das müssen gesunde Glöckner sein, denke ich und überlege, welch Lied ein Quasimodo, bucklig und gebrechlich, wohl läuten würde? Würde er um unser Gesundheitssystem kämpfen wie um die schöne Esmeralda, sie vor ihren Verfolgern schützen? Seinen Herrn, Dom Frollo, der Esmeralda verfolgt und auf den Scheiterhaufen bringen möchte, stößt Quasimodo vom Turm. Wie viele Lobbyisten müssten wohl erst aus dem Turm – Elfenbeinturm? – namens Deutscher Bundestag vertrieben werden, um ein gerechteres Gesundheitssystem für alle zu etablieren? Gibt es ein Asyl für unser Gesundheitssystem? Oder wird es auf dem politischen Scheiterhaufen landen und langsam verbrannt? Zur Zeiten Quasimodos gab es den heutigen Reichtum ja noch gar nicht, sagen Sie? Eben!
Der Alltagsminister
31.07.2006
Meine lieben Leserinnen und Leser,
zum Alltag gehört auch ein Freundeskreis. Mir haben vergangene Woche gleich drei Menschen von ihrem Freundeskreis erzählt. Sie waren in den Dreißigern oder Anfang Vierzig. So unterschiedlich ihre Herkunft und ihr Berufsleben war, so einheitlich bedauerten sie, dass die Freundinnen und Freunde zu weit verstreut bzw. sie selbst zu viel unterwegs seien, um sie zu treffen und mit ihnen etwas zu unternehmen. Immer war herauszuhören, dass die Zeit zu knapp sei. Entweder die eigene oder die der anderen. Noch schwerer sei es, neue Freundschaften zu schließen. Begegnungen gäbe es reichlich, Handy-Nummern würden ausgetauscht, doch dann würde sich nur selten wieder begegnet. Lässt unsere derzeitige Lebensweise, die Richtung, in die wir uns gesellschaftlich entwickeln, zu wenig Raum für das Private? Immerhin werden politisch doch immer mehr soziale Institutionen und Aufgaben privatisiert. Privatisierung gleich weniger Privatleben? Das ist das eine. – Ich beobachte, in einem Biergarten sitzend, wie sich die ankommenden Gäste an die noch leer stehenden Tische setzen. Jede und Jeder an einen noch nicht besetzten Tisch. Erst als alle Bänke besetzt sind wird gefragt, ob man sich noch dazu setzen dürfen. Das ist das andere. Wie schade denke ich. Wie viele Begegnungen so nicht stattfinden. Verpasste Chancen. Zwei Tage zuvor saß ich, diesmal allein, auf einem Steg. Eine einfache Holzbank. Eine junge Frau fragt, ob sie sich zu mir setzen dürfe. Wir lernten uns kennen, nur für einen Abend. Doch ich erfahre viel über ein mir fremdes Leben. Zur Ermunterung hier ein Gedicht.
Kennenlernen
Zur selben Zeit, am selben Ort,
Der erste Gruß, das erste Wort,
Und schon erschließt sich eine Welt,
Die jeder sonst für sich behält.
In dieser Welt zu reisen, bedarf es gar nicht viel,
Gedanken, Blicke, Gesten führen hin zum Ziel.
Wie weit die Reise reicht,
ob kurz, ob lang – der Weg, beschwerlich oder leicht,
Das weiß kein Mensch vorher zu sagen,
Doch weil der Mensch den Menschen braucht,
Sollt er das Kennenlernen wagen.
Der Alltagsminister
Vor einer Woche habe ich einen Kurort an der Ostsee besucht. Am Tag meiner Ankunft kreuzten Kriegsschiffe vor dem Strand. Am Strand lagen Menschen wie Leichen im Sand. Sonnenhungrige Urlauber. Erleichtert stellte ich fest, dass sie noch lebten. Der Präsident der Vereinigten Staaten war zu Besuch. Er bewohnte ein Hotel nur wenige Kilometer entfernt von mir. An Land belebten zahllose Polizisten die Strandpromenade und die Cafés. In ihrer vollen, in satten Grün gehaltenen Montur sahen sie ein bisschen aus wie Außerirdische, die – uniformiert aber uninformiert über die hiesigen klimatischen Verhältnisse – auf diesem Planten gelandet waren, und nun wie die Erdbewohner selbst überrascht wurden von der sengenden Sommerhitze. Ich hoffte ihre Kleidung sei klimatisiert. Statt eines Ufos stand ein ebenfalls sehr futuristisch aussehender Hubschrauber auf dem Rasen eines Hotels. – Ich stelle mir vor, dass sich die Menschen in einer Kur von Krankheiten aber auch von ihrem Alltag erholen. Häufig hängt beides zusammen. Einige Kurgäste erzählten mir von ihrem mit Behandlungen und Anwendungen gefüllten Tagesablauf. Ich war nur hier, um zu urlauben. Entspannt schlendere ich mit meiner ständigen Begleiterin durch den strandnahen Wald. Er spendet uns erholsamen Schatten, frische Luft und Ruhe. Nur hier und da bricht das Sonnenlicht ungehindert durch das dichte Blätterdach. Vereinzelt kreuzen Radfahrer meinen Weg. „Leinen Sie ihren Hund an“, raunzt mich einer von ihnen an und reißt meine Labrador-Hündin und mich aus unseren Träumen. Vorbei ist es mit der Entspannung. Ein empörtes „Leinenpflicht!“, trifft mich in den Rücken. Aus meinen Gedanken gerissen komme ich gar nicht dazu zu antworten. Er ist ja auch im Recht, der Radfahrer. Szenenwechsel. Am Nachmittag sitze ich auf der Terrasse eines Cafés. Zwischen mir und dem Meer liegt nur der Strand. Hinter mir die Strandpromenade. An mir vorbei flanieren einige Spaziergänger. Vielleicht sind Kurgäste darunter. Auch einige Radfahrer fahren die Promenade entlang. Ein friedliches Bild. An meinem Nachbartisch werden Stimmen laut. Eine Frau sagt zu ihrem Mann: „Ist Radfahren nicht verboten hier? Und doch fahren da Radfahrer!“ Die Frau ist außer sich. Sie ist ja auch im Recht. Erneuter Szenenwechsel. Abends am Strand. Ein Freund erzählt mir, wie er, sein Fahrrad die fast menschenleere Strandpromenade entlang schiebend, es hinter sich rufen hört: „Na, das ist doch mal ein ordnungsbewusster Mensch! Der schiebt sein Fahrrad hier, wie es sich gehört!“ „Ich kam mir plötzlich so klein und angepasst vor. – Ich bin aufgestiegen und weiter geradelt“, schloss mein Freund etwas beschämt seine Anekdote. „Willkommen in Kühlungsborn!“ – „Kühlungsborn to be wild”, ergänze ich. Einige Leute gesellen sich zu uns an den Strand. Entspannt schauen wir der Sonne dabei zu, wie sie gleich uns in die Ostsee taucht. Urlaubsatmosphäre breitet sich aus.
Der Alltagsminister
17. Juli 2006
Der Alltagsminister
Geht es Ihnen wie mir? So viele Gäste aus so vielen Ländern der Welt, ein buntes Durcheinander, überall Begegnung. Und nun reisen sie wieder ab. „Alle Leute sind auf der Straße herumgelaufen und haben zusammen gefeiert“, sagt ein Mann in das Mikrofon eines Rundfunk-Reporters, der Menschen auf der Berliner Fan-Meile interviewt. – Nun sind wir wieder allein zu Haus. „Wie wird Dein Alltag nach dieser WM aussehen?“, frage ich einen jungen Mann, der zum Ende des Finales neben mir sitzt. Wir sind in einer der unzähligen Kneipen, die das große Ereignis auf Großbildleinwänden und Fernsehschirmen übertragen. „Ich muss jetzt erstmal in Urlaub fahren,“ sagt er. „Jetzt einfach in den alten Trott zurückfallen, das krieg ich nicht hin.“ Und Sie? Hat sich Ihr Alltag am Tag danach verändert? – Ich fahre auch erst einmal in Urlaub. Natürlich nicht, ohne Ihnen dann zu erzählen, was die Menschen dort, wo ich hinfahre, so beschäftigt in ihrem Alltag. Und natürlich nicht ohne meine ständige Begleiterin, die mir so häufig den Kontakt zu ihnen herstellt. Welcher Mensch geht schon so direkt auf einen anderen zu, lässt sich streicheln, stupst ihn mit der Nase an, wie meine kleine, vielleicht etwas zu gut genährte Labrador-Hündin? Mit einem Fußball hat sie allerdings noch keiner verglichen. So betrachtet, ist meine Vierbeinerin ein bisschen Weltmeisterschaft, die Menschen öffnen sich, tauen auf, begegnen einander. Eine Art permanente WM, die sogar ganz ohne „das Runde“ auskommt, wenn sie auch selbst ein wenig rund ist. Und wer weiß, vielleicht schaffen wir es, diese Unbefangenheit, Weltoffenheit und Geselligkeit auch über diese WM hinüberzuretten, jetzt, wo wir daran Gefallen gefunden haben. Etwas mehr Lebenslust, das wäre auch ein politisches Signal.
Mal ehrlich, können Sie sich Ihren Alltag noch ohne Fußball vorstellen? Dann schwenken Sie die Fahnen nach der WM doch einfach weiter. Wofür? Nun, ich stelle mir vor, wie die Menschen nach der Fußballweltmeisterschaft gleich weiter demonstrieren. Wie sie nach der WM – vielleicht gewinnen wir sie ja – nun auch verlangen, die Weltmeisterschaft in Bildung, Beschäftigung und Sinnstiftung auszurichten. Die Fußballweltmeisterschaft hat sehr viel Geld gekostet. Allein die Stadien zu modernisieren, die Vorbereitung, das Training. Die Bezahlung der Spieler ist großzügig. Die Leistungsbereitschaft entsprechend hoch. Ein großartiger Trainer, der seine Idee erst gegen Widerstände durchsetzen musste, bis der Erfolg sich einstellte und ihm dann plötzlich alle, auch die größten Skeptiker Recht gaben oder schwiegen. Ein hoher Einsatz also. Dieser Einsatz müsste natürlich auch gespielt werden, um in Bildung und Beschäftigung Weltmeister zu werden. Wer kann die Menschen dafür begeistern und auf die Straße bringen? Wo ist die Idee, wo sind die Trainer, die hier Verantwortung übernehmen, die das Volk begeistern? Man stelle sich umgekehrt nur einmal vor, der DFB und die FIFA würden den Spielern nur noch gegen Gebühr eine medizinische Grundversorgung am Spielfeldrand anbieten, die Stadien hätten aus Kostengründen nicht modernisiert werden können, und die Schiedsrichter müssten nach der in der vergangenen Woche im Bundestag verabschiedeten Föderalismusreform nun in jedem Bundesland nach den jeweiligen Regeln der Landesregierungen pfeifen? Was wäre da wohl los auf den Straßen? Und wie wäre es da um die Leistungen im Fußball bestellt?
Der Alltagsminister
26. Juni 2006
Heute also wieder zurück auf das Land. Irgendwo im Osten der Republik. Wir schreiben das Jahr 16 nach der Einheit. Am Frühstückstisch erzählt mir eine Frau, sie wird Mitte fünfzig sein, die Geschichte ihres Hauses. Ich bin ihr Gast. Ich reise für einige Tage die Ostseeküste entlang. Die Wirtin erzählt mir ein Stück DDR-Geschichte. Interessant ist dieser Satz, den sie in ihre Erzählung einfließen lässt: „Ich kannte jedes Gesetz, wusste, an welche Stellen ich mich wenden musste. Von einem Tag auf den Anderen, nach der Wiedervereinigung, wussten wir plötzlich gar nichts mehr. Die Welt funktionierte ja plötzlich nach ganz anderen Regeln. Wir mussten ganz von vorn anfangen.“ Sie sagt das nicht wehleidig, aber doch so, dass deutlich wird, welch tiefer Einschnitt in den Alltag mit jenem geschichtsträchtigen Datum verbunden war. Die Menschen waren gezwungen, ihren Alltag von einem Tag auf den anderen komplett umzustellen. Ich meine, wir haben dies bis heute noch gar nicht gebührend zur Kenntnis genommen. Und dennoch oder gerade deswegen wirkt dieser Umschwung bis heute, auch sechzehn Jahre nach der Wiedervereinigung, noch nach. Diese Dame zum Beispiel war zum Zeitpunkt der Wende noch in gehobener Position mit Berufsausbildung befasst. Heute bewirtschaftet sie ein Ferienhaus. Ihre erwachsenen Kinder mussten in den Westen, um Arbeit zu finden und auch dort würde es immer schwieriger. Sie spricht auch über die Rahmenbedingungen von berufstätigen Frauen zu jener Zeit. Ich höre ihr aufmerksam zu und frage mich, ob die Politik sich nach der Einheit nicht viel zu einseitig, vielleicht auch zu ideologisch, zu wenig selbstkritisch und aus dieser Position aus dem Gefühl der Überlegenheit heraus handelnd auf das Staatliche, das „System“, und zu wenig auf das Alltägliche konzentriert hat und dies auch heute noch tut. Um die Menschen zu verstehen, um sich ihrer Probleme politisch wirksam anzunehmen, um von ihnen zu lernen (!), muss man ihren Alltag kennen, soviel steht fest.
Eine interessante Begebenheit. Bevor ich Ihnen – wie in meinem letzten Beitrag angekündigt – weiter von meinem Ausflug aufs Land berichte, hier eine kleine Anekdote aus der Hauptstadt. Mutter und Tochter, beide zu Besuch aus dem katholischen Süden, spazieren die Invalidenstraße hinunter. Sie fragen mich nach der U-Bahn. Ich antworte Ihnen, die S-Bahnstation Nordbahnhof sei am nächsten. Es ist nach 21 Uhr. Angola hat gerade gegen Mexiko 0 zu 0 gewonnen. Denn für das afrikanische Team hat dieser Torstand ausgereicht, um das Achtelfinale zu erreichen. Die Mexikaner sind dagegen aus dem Rennen. Sie wundern sich? Ja, wenn der Fußball jetzt doch so sehr unseren Alltag bestimmt. Dass selbst die, die dieser Sportart – oder soll ich besser Kommerzart sagen – sonst kein Interesse entgegenbringen, mit den Mannschaften aus aller Welt mitfiebern – ich nehme mich hier gar nicht aus. Dann, ja dann muss der Alltagsminister dies doch wenigstens zur Kenntnis nehmen. Noch vielmehr, er muss der Bedeutung der Weltmeisterschaft für den Alltag der Menschen noch einmal gesondert Platz einräumen, um diesem Ereignis gerecht zu werden. Doch zunächst zurück zu den beiden Damen. Sie sind heute die Hauptdarsteller meiner Kolumne. Da ihre S-Bahnstation auf meinem Heimweg liegt, begleite ich Mutter und Tochter ein Stück des Weges. Ich frage sie, ob Sie, aus dem Süden kommend, ein verlängertes Wochenende hier verbringen würden. Sie bejahen. Ja, sie hätten den Fronleichnam dazu genutzt. Plötzlich steht die Frage im Raum, was denn der Hintergrund des Fronleichnams sei? Die Tochter sagt, sie wüsste es nicht. „Aber Kind, dass musst Du doch wissen.“ So die Mutter mit empörtem Unterton. Ihre Tochter sei schließlich Katholikin, sagt sie zu mir gewendet. „Was ist denn nun der Fronleichnam“, fragt die Tochter die Mutter. Sie schweigt. „Siehst Du“, sagt die Tochter, ironisch und doch wohlwollend. Über den Dingen stehend. „Du weißt es auch nicht“, neckt sie die Mutter. Betretenes Schweigen „Ich muss es auch nicht wissen“, trotzt die Mutter schließlich, „ich bin nicht katholisch“. Zum Glück beginnt das Handy in der Handtasche der Mutter zu klingeln. Der Unterricht wird abgebrochen. Ich geleite die Damen noch bis zur S-Bahnstation und verabschiede mich freundlich. – Ach, Sie fragen sich schon, wo meine ständige Begleiterin denn war? Sie war natürlich – wie immer – dabei.
Auf dem Land. Ich gehe einen schmalen Pfad. Er führt von einer kleinen Dorfstraße durch ein Kornfeld, vorbei an einem urigen Weiher, in dem Frösche mit kräftigen Stimmbändern zu einem Chor zusammengefunden haben. Natürlich bin ich auch diesmal nicht ohne meine ständige Begleiterin. Queeny, meine Labrador-Hündin. Sie wirkt befreit, tollt hinter mir und vor mir drein, steckt ihren Kopf ins tiefe Gras am Wegesrand, reckt ihre Nase in die von den Düften des Kornfelds getränkte Sommerluft. Als wir aus dem Feld heraustreten, liegt ein Sandstrand zu unseren Füßen. Wir sind an der Ostsee. Der Himmel über uns scheint mit dem vor uns liegenden Meer um das schönere Blau zu wetteifern. Ein friedlicher Wettkampf. Ein Idyll um uns herum. Das gibt es noch. Im Osten zumindest. Doch zurück zu dem Sandweg, der uns hierher geführt hat. Ich wünschte, solch versteckte Feldwege führten überall durch Stadt und Land. Stellen Sie sich das einmal vor! Fluchtwege, Notausgänge aus einem häufig allzu engen Alltag. Vielleicht gibt es diese Wege ja, und ich habe sie nur noch nicht entdeckt. Wenn nicht, sollte man sie schaffen. Dass die Menschen, ohne lange danach suchen zu müssen, aus dem bisweilen allzu hektischen oder allzu eintönigen Alltag entfliehen können. Nach anderen Notausgängen darf man ja auch nicht lange suchen müssen. Diese besonderen Fluchtwege sollten durch ganz gewöhnliche, ganz alltägliche Hinweisschilder gekennzeichnet sein. Wie die, die wir an den Eingängen zu Grünanlagen finden. Nur, dass die gewohnten Symbole durch andere ersetzt worden sind. Statt der Anleinpflicht für Hunde und anderer Einschränkungen werden wir nun durch eine durchgestrichene Uhr, einen durchgestrichenen Aktenkoffer und ein durchgestrichenes Gesicht mit einer Gedankenblase, die ein Büro mit einem vollen Schreibtisch zeigt, in unserem Handeln eingeschränkt – und dadurch doch nur eingeladen, einmal vom Alltag frei zu nehmen. Sie haben gemerkt, wir sind auf dem Land. Und das öffnet uns für ganz neue Ideen. Auch die Menschen, denen wir hier begegnen, haben einiges zu erzählen, das zum Nachdenken anregt. Doch das beim nächsten Mal.
Der Alltagsminister
5. Juni 2006
In einem Café irgendwo in Deutschland. Die Zukunft ist ungewiss. Zumindest für die Menschen um mich herum. Wir sitzen zu fünft an zwei zu einer Tafel zusammen geschobenen Tischen. Umzugsgehilfen nach der Arbeit. Bis auf die, die umgezogen ist, sehe ich sie zum ersten Mal. Zwei Studentinnen der Theaterwissenschaften, eine Literaturstudentin, eine angehende Juristin und eine ausgebildete und berufserfahrene Buchhändlerin, heute Hartz IV-Empfängerin mit Nebenjobs. Ich habe alle fünf nach ihrer Zukunft gefragt. Alle waren sich unsicher. Die eine war gerade aus Lateinamerika zurück, die andere hatte ein Jahr im europäischen Ausland studiert. Gemeinsam war ihnen, dass sie kurz vor dem Abschluss standen, aber noch nicht genau wussten, wohin die Reise gehen würde und sollte. Es gibt sie also noch, die Studierenden, die nicht zielstrebig jeden Schritt auf die Karriere lenken. Horizonterweiterung. Die Frage nach der Zukunft wurde prompt selbst in Frage gestellt. Wie angenehm, sich mit diesen Menschen zu unterhalten, ihnen zuzuhören. Kein vorgefertigter Gedanke. Gedankensprünge nur. Gedankenaustausch. Das ist doch schon ein schönes Stück Zukunft, denke ich zuversichtlich.
Ich möchte Ihnen heute nur zwei Fragen stellen. Die eine an Sie, liebe Damen und Herren Politiker. Sie lautet:
Wann haben Sie zuletzt in Berlin oder, ganz allgemein, in Ihrem Wahlkreis, ein öffentliches Nahverkehrsmittel genutzt? Die U-, die S-, die Straßenbahn, den Bus?
Warum ich Sie das frage? Nun, der öffentliche Nahverkehr ist es, in denen Ihnen immer ein Stück Alltag begegnet. Die Menschen auf dem Weg zur Arbeit, zum Arbeitsamt, zum Arzt, in die Schule, an die Uni. Dialoge über Büro, Schule und vieles mehr. Kurzum, wann haben Sie Ihre Wählerinnen und Wähler und die, die noch nicht wählen dürfen, aber schon viel zu erzählen haben, zuletzt in diesem Alltagszubringer, dem öffentlichen Nahverkehr, wahrgenommen, sind mit Ihnen vielleicht sogar ins Gespräch gekommen? Sind Sie vielleicht sogar auf diesem Weg schon einmal in ein “no go area” hineingefahren? Und, hat dieses Erlebnis ihre Politik bestimmt? Ich stehe vor einer Berliner Tram. Auf der Eingangstür prangt ein rot-orangenes Schild. Auf dem Schild steht: “Noteingang! Wir bieten Schutz vor rassistischen Übergriffen.” Darunter ist dieser Hinweis noch in die geläufigsten europäischen Sprachen übersetzt. Die Straßenbahnen als Schutzpatrone.
Und nun frage ich Sie, liebe Bürgerinnen und Bürger. Wann haben Sie zuletzt über ihren eigenen Alltag nachgedacht? Haben Sie schon einmal das Gute und das Schlechte, das Ihnen widerfährt, mit der Politik verbunden?
Warum ich Sie das frage? Ganz einfach, Sie sind – noch nicht – für alles selbst verantwortlich, was Ihnen passiert. Aber so verantwortlich sollten Sie schon sein, dass Sie das, was tagtäglich mit Ihnen und um Sie herum vonstatten geht, beobachten und fragen, hinterfragen, was und warum dieses und jenes passiert und auch Ihren Alltag bestimmt. Politisieren Sie doch einmal Ihren Alltag ein bisschen auf diese Art und Weise.
Nun ist also auch das Regierungsviertel ein „no go area“. Da streiten Politiker unterschiedlicher Couleur wochenlang darüber, ob man soziale Brennpunkte offen benennen und zu deren Meidung aufrufen darf oder nicht. Empörung, Beschwichtigung. Der nahe liegende Gedanke, dass – wenn wir nicht zu ihnen kommen – die Menschen aus jenen zu recht oder zu unrecht gebrandmarkten Stadtteilen sich selbst auf den Weg machen könnten, in die „to go areas“, kam ihnen dabei gar nicht in den Sinn. Nun hat ein Jugendlicher aus eben solch einem Stadtteil den sprichwörtlich stichhaltigen Beweis geliefert, dass sich soziale Vernachlässigung nicht eingrenzen lässt. Ein tragischer Vorfall mit vielen unschuldigen Opfern. Ein Einzelfall? Sicher? Vielleicht. Hoffentlich. Nein! Wirklich helfen wird nur, die soziale Vernachlässigung selbst einzugrenzen. Dazu bedarf es freilich keiner moralischer Appelle derjenigen, die in Regierungsverantwortung über Jahre eben jene sozialen Probleme ignorierten, die diese individuellen Gewaltausbrüche maßgeblich mit bedingen, und denen auch jetzt nichts Besseres einfällt, als noch einmal die Sicherungskonzepte für die vor der Tür stehende Fußballweltmeisterschaft zu prüfen und zu überdenken. Wann endlich hört die Politik auf, den Problemen nur hinterher zu rennen, sich über Folgen zu empören, die Ursachen aber zu ignorieren?
22. Mai 2006
In der Stadt. Ich streife nachts, gemeinsam mit einer Freundin, durch die Straßen Berlins. Wir passieren gerade eine große Leuchtreklame, die uns dazu einlädt, irgendein Modeacessoire zu kaufen. Überhaupt ist Berlin voll von durchgestylten Menschen. Sie verleihen den anderen Einwohnern etwas bäuerlich-ländliches. Ländliche Unterschichten in Berlin? Kontraste. Bevor wir uns auf den Heimweg machten, haben wir in einem Sushi-Restaurant zu Abend gegessen. Die Kellnerinnen trugen alle das gleiche ärmellose, eng auf dem flachen Körper anliegende Shirt, der Bauchnabel frei, ihr Gang wie auf einem Mode-Steg. Sie sahen ein bisschen so aus, als wenn sie vor uns die Reklametafel, die wir gerade passierten, schon gestreift hätten. Es fehlte nur noch das Lasertablett, auf dem sie uns – durch ihre Blicke ferngesteuert natürlich – unsere Sushi servieren würden. „Stell Dir vor,“ sag ich zu meiner Freundin, als wir durch die Straßen Berlins streifen, „stell Dir vor, diese Reklametafeln würden plötzlich ein Eigenleben entwickeln, Fragen stellen, Dialoge provozieren: ´Vergesst es, kauft das nicht. Geht für das Geld lieber ins Theater, in die Oper oder ins Kino. Kauft Euch ein Buch für das Geld. – Ihr wisst nichts damit anzufangen? Kein Wunder. Daran sind wir schuld. Wir haben zu lange zu all dem geschwiegen. Euch verführt. Euch Eurer Individualität beraubt. Euch uni(n)formiert. – Jetzt informieren wir Euch. – Nein, natürlich sollt Ihr auf Euer Äußeres achten. Aber richtet Euch dabei nicht nach uns. Versucht nicht länger Euer Inneres durch diese – Réné Pollesch würden an dieser Stelle eine seiner Protagonistinnen ganz schrill „Scheiße“ schreien lassen – Retorte zu überdecken. Wir töten Eure Phantasie bei lebendigem Leib. Hört endlich auf, Eure Individualität von uns zerstören zu lassen.“ „Hm“, sagt meine Freundin, beugt sich runter und zieht ihre Schuhe aus. „Ich muss mich gerade mal etwas erden,“ sie fängt an zu lachen. Wir gehen barfuß durch Berlin. „Ich guck mal, was morgen im Deutschen Theater läuft,“ sag ich zu ihr. „Nein“, antwortet sie, „lass uns in den Prater gehen. Ich will Pollesch im Original hören.“ Wir sind angekommen. – Auf dem Land. Lassen Sie mich noch zwei Sätze zu meinem heutigen Ausflug aufs Land verlieren. Wie leer die Landstraßen sind, am Sonntag. Und wie grün der Osten erblüht. Menschen allerdings sehe ich nur wenige. Die Gegend wirkt verlassen. Sie strahlt eine eigene, zurückgelassene Ruhe aus. Neuruppin. Kyritz. Klein Leppin. Groß Leppin. Die Plattenburg. Ein menschenleeres Café hinter den Burgmauern. Havelberg. Rhinow. Friesack. Ich denke, der Alltag der Menschen hier hat schon lange keinen Berliner Politiker mehr beschäftigt. Ein paar Touristen vielleicht. Eine zauberhafte Landschaft. Soviel ist gewiss. Und Ruhe. Welch eine herrliche, fast außerirdische Ruhe. Und echte Landwirte gibt es hier noch. Holsteiner auf den Wiesen. Ich werde wiederkommen.
15. Mai 2006
Bahnhöfe. Bahnhöfe wären die idealen Begegnungsstätten. Menschen aus allen Teilen der Welt treffen an diesen Knotenpunkten zusammen. Zu Gast bei Freunden? Einen freundlichen Empfang bietet das Bild unserer Bahnhöfe nicht. Nähert man sich ihnen von außen oder, was auf das Gleiche hinaus läuft, verlässt man sie in Stadtrichtung, umringen einen Massenbetriebe, in der Regel Schnellimbisse, die der ganzen Welt ihr ewig gleiches Gesicht zeigen. Gut, dass die Namen der Bahnhöfe den Reisenden Gewissheit geben, am richtigen Ort ausgestiegen zu sein. Berlin Zoologischer Garten. Hamburg Hauptbahnhof. Und noch etwas geben die Bahnhöfe preis. Ja, erbarmungslos schreien sie es den Besuchern ins Gesicht: Seht her! Die Welt hier ist nicht so, wie in Euren Reiseführern, die Euch hierher gelockt haben. Betrunkene, verwahrloste Menschen, Zeitungen verkaufende Obdachlose. Schmutz. Lärm. Weiter oben, auf den Bahngleisen, Männer in teuren Anzügen und Damen in schönen, jetzt bunten, sommerlichen Kleidern. Anonymität liegt in der Luft. Aber hier gibt es kein Dazwischen. Keine Vorgärten und Glasbauten, die die Einen von den Anderen trennen. Hier tritt die Welt schonungslos zu Tage. Uneins. Ausgespuckt in Bahnhöfen. Züge fahren ein und aus, Taxis halten vor den Stationen. Sie nehmen die gut gekleideten Damen und Herren auf und tragen sie hinaus. Die anderen bleiben zurück.
Im Regierungsviertel Berlins, gegenüber vom ARD-Hauptstadtstudio, zwischen dem Ufer der Spree und dem Jakob-Kaiser-Haus steht ein zartes Bäumchen. Vor dem Sprössling prangt ein großes Schild. Der Ableger verschwindet fast dahinter. Auf dem Schild steht: Geschützte Grünanlage. Ich denke unwillkürlich: In der Nähe des Bundestags erhalten selbst die Bäume Personenschutz. Nur fällt es hier niemandem richtig auf. Denn Personenschutz ist hier ein Teil des Alltags.
Sie ist der Mittelpunkt der Stadt,
Sie ist – mit einem Wort – Lebensgenuss,
Nur eins sollt man in ihr nicht nehmen: Ein Bad.
Im Sommer, wenn der Wind nicht weht,
Und am kristallblauen Himmel,
die leuchtend gelbe Sonne steht.
So launisch, es ist eine Qual,
Sie dreht den Wind, dann so geschwind,
Dass manchem Bootsmann´s nicht gelingt,
Balance zu halten – Contenance!
Die Alster lässt ihm keine Chance,
Das Boot, das kippt, und er kippt mit,
Ich hör ihn rufen: Was ist das?
Dann spürt er es, das kalte Nass.
Die Enten und Schwäne zeigen ihm, dass es auch anders geht,
Sie bleiben über Wasser, egal wie schnell der Wind sich dreht.
Sie zeigen sich und denken, sie wären besonders locker,
Doch kaum einer läuft so, dass es Spass macht ihm zuzusehen,
Ich denke, wie gesund es ist, langsam an ihnen vorbeizugehen.
Berlin-Mitte ist die Stadt der breiten Fußwege. Nirgendwo sonst habe ich so ansehnliche Bürgersteige gesehen. Und dennoch gehen die Menschen hier so neben einander her, als ob sie sich noch nie auf engeren Trottoirs hätten drängen müssen. Und deswegen gibt es trotz der weitesten Gehsteige kein Vorbeikommen. Mit dem Fahrrad zum Beispiel. Das funktioniert in jeder anderen Stadt. Nicht in Berlin-Mitte. Ich überlege, ob das vielleicht ein Symbol für etwas ist. Haben die Bauherren vielleicht die Fußwege so breit angelegt, dass die Menschen ungestört aneinander vorbeigehen können, die Fußwege aber – diese Alltagszubringer – haben sich abgesprochen und im makellosen Berlinerisch gesagt: Nee. Dat jeht doch nich. Wir müssen die Menschen doch zusammenfieren, irjendwie, und wenn wir se nich aneinander vorbeilassen. Dat is doch janz einfach. Und so sind die Gehwegplatten, ohne dass wir es merken, ständig in Bewegung und schieben uns zusammen und eng aneinander vorbei. Das ist anstrengend, man kommt nicht so reibungslos voran, wie man es möchte oder wie man meint es zu müssen. Aber so entsteht auch schon einmal der ein oder andere Dialog zwischen Unbekannten. Kennen lernen in Berlin.
24. April 2006
Gestern bin ich in eine angesagte Berliner Szene-Bar eingekehrt. Am Prenzlauer Berg. Ich hatte die Bar, tagsüber ein Café, schon des Öfteren gestreift. Sie war jedoch so brechend voll – einmal meine ich auch durch das große Fenster ein bekanntes Schauspielergesicht erkannt zu haben –, dass ich die Enge meiner Begleiterin nicht zumuten wollte. An dieser Stelle muss ich Ihnen meine ständige Begleiterin vorstellen. Sie heißt Queeny. Und fürwahr, sie ist eine Königin, immer ruhig und gelassen. Sie leistet es sich, wann immer es ihr genehm ist, verträumt zu sein und gönnt sich, wo immer sich die Gelegenheit bietet, ein königliches Mahl, um danach geradezu aristokratisch in einen tiefen Schlaf zu fallen. Ihr Haar ist golden. Ihre Vorfahren waren Labradore. Neben ihr komme ich mir so alltäglich vor. Sie zeigt mir auf ihre Art, wie sehr wir Menschen uns doch bestimmten Tagesrhythmen unterwerfen. Ich sage ihr dann manchmal: Einer muss ja aber auch dein Hundefutter verdienen. Ihr erhabener Blick lässt mich dann nur noch alltäglicher aussehen. Wenn ich der Alltagsminister bin, ist sie die Alltagspräsidentin. Sie ist so repräsentativ. Gestern Abend, als wir noch einmal um die Häuser streiften, um nach dem Alltag zu sehen, haben wir uns überwunden und die Bar betreten. Sie war heute nicht überfüllt. Tiefe Bässe nahmen uns dröhnend in Empfang. An der Bar Platz nehmend, fühlte ich mich plötzlich in diese Klangwellen hinabtauchen. Die Menschen um mich herum verwandelten sich in ausdruckslose Fische. Ich tauchte an Galerien vorbei, eine nach der anderen. Berlin, die Stadt der Galerien. Eine eigene Welt. Doch wo ist die Tiefe Berlins?, fragte ich mich plötzlich. Ich lasse meine Streifzüge durch die Stadt Revue passieren. Was bewegt die Menschen, die sich hier versammeln? Ich erhielt keine Antwort. Wissen sie es? Nun, manchmal muss man ja nur etwas weiter raus schwimmen, um tiefer tauchen zu können.
13. Februar 2006
Liebe Leser- und Leserinnen und – natürlich – liebe Zuhörer. Wie sie sehen können habe ich es mit einer neuen Idee nunmehr als “Aufmacher” in die Mitte der Titelseite dieses Blattes gebracht. Die Idee: Eine Streikkolumne.
Wenn ich eine Zeitung aufschlag oder spazieren geh – oder an der Haltestelle steh,
Jetzt sitz ich hier am Tisch und höre zu,
Hier lässt ein das Leben noch nicht in Ruh,
Keine Menschen an mich binden,
Ich geb Ihnen – Ihr – Wort,
Eine Geschichte vor Ort.
Liebe Zuhörer und Zuhörerinnen, ja, ich spreche Sie heute bewusst nicht als Leser/innen an. Denn ich möchte Ihnen heute einen Song vorstellen. Sie können ihn demnächst hören. Heute muss ich in dieser Hinsicht an Ihre Vorstellungskraft appellieren.
Ich weiß, die Menschen haben es manchmal schwer,
Viele auch nur manchmal nicht,
Ihnen geb ich Zuversicht.
Warum sie sich manchmal so quälen,
Natürlich auch, wenn Grund zur Freude ist,
Der Alltag ist doch nicht nur trist,
Es gibt auch Schönes zu berichten,
Und wer da sagt, da ist kein Licht, dem sage ich, mitnichten!
Es ist Sonntag früh. Ich sitze in einem Café. Wie lange habe ich, immer unterwegs, diese „Dienststelle“ nun schon nicht mehr aufgesucht? Das Café, in dem ich heute sitze, ist menschenleer. Ich bin der einzige Gast. Zwei Bedienungen unterhalten sich freundlich und entspannt. Sonntag. Mein Hund liegt lang ausgestreckt zu meinen Füßen. Ich habe mir einen Milchkaffee und zwei Croissants bestellt. Ein bequemer Sessel hat mir seine Dienste angeboten. Der Blick nach draußen zeigt einen wolkenlosen Himmel. Eine Farbe, ein Licht, wie sie uns nur der kalte Winter im Norden oder sein Gegenspieler, der heiße Sommer im Süden, schenken.
Ich habe heute früh – lassen Sie es mich ruhig einmal so staksig wissenschaftlich formulieren – über einen dem Menschen im Allgemeinen zuträglichen Tagesablauf nachgesonnen. Der Gedanke hierzu stellte sich ganz natürlich ein. Morgens, im Bad. Es muss gegen neun Uhr gewesen sein. Während ich mich rasierte fiel mir auf, wie sehr ich gleichzeitig damit beschäftigt war, die Gedanken an den morgigen Tag zu vertreiben. Sie müssen wissen, seit kurzem arbeite ich – um die möglichen Konsequenzen des Berufslebens einmal wieder ganz konkret nachzuempfinden – regelmäßig, wie hunderttausende andere Menschen auch, in einem Büro. Ich bin also erneut dem beruflichen Alltag auf der Spur.
Dieses Experiment hat meinen Lebens-Rhythmus nicht unwesentlich beeinflusst. Ich würde morgen wieder früh aufstehen müssen. Eine Menge Arbeit wartete auf mich. Soviel Arbeit, dass ich mir, um die Woche etwas entspannter angehen zu können, am Freitag einige Aufgaben mit nach Hause genommen hatte. Als würden sich diese Aufgaben, immer noch eingesperrt in den Aktenkoffer, in den ich sie am Freitag Nachmittag verstaut hatte, darüber ereifern, welche von ihnen ich wohl zuerst aus ihrem dunklen Verlies befreien und bearbeiten würde, riefen sie sich lautstark in mein Gedächtnis. Wie Hilfeschreie von weither, die in unregelmäßigen Abständen von einem nicht genau zu bestimmenden Ort herüber dringen und einen daher selbst hilflos und orientierungslos in die eine oder andere Richtung treiben. Ich wehrte mich, versuchte mich auf den vor mir liegenden Sonntag zu konzentrieren. Mit Erfolg. Der Sonntag begann sich in mir auszubreiten und mir den folgenden Text zu soufflieren. Er nannte ihn: „Der für den Menschen im Allgemeinen gesunde Tagesablauf.“
„Der gesunde Alltag“, begann er, „beginnt gegen neun Uhr. Du wachst auf – vielleicht schon gegen sechs Uhr, vielleicht auch erst gegen acht. Wichtig ist, Du denkst erst gar nicht, dass Du zu einer bestimmten Zeit aufwachen musst. Neun Uhr ist, so verstanden, nur ein Platzhalter für Deine innere Uhr, die Dich zur richtigen Zeit weckt. Und dann, schon beim Aufwachen, gibst Du das Tempo, Deinen Tagesrhythmus vor. Vielleicht schaltest Du erst das Radio ein und lässt Dir erzählen, was in der Welt passiert ist, während Du geschlafen hast. Vielleicht bist Du auch nicht allein und küsst Deine große Liebe wach oder, wenn für sie neun Uhr erst später beginnt, Du stiehlst Dich leise aus dem Bett, um sie nicht aufzuwecken. In jedem Fall denkst Du nicht gleich: Schon so spät, ich komme nicht rechtzeitig ins Büro. Soviel Arbeit, das wird ein langer Tag werden. Das ist mir alles viel zu viel. Wofür das alles? Kurzum, Du machst es jeden Tag so wie heute mit mir, Deinem Sonntag.
Wenn Du dann bei der Arbeit bist“, fuhr der Sonntag fort, „dann legst Du los, sortiert, aufgeräumt, eins nach dem anderen. Es gibt nichts, das nicht auch morgen erledigt werden könnte. Dieser Gedanke bremst Dich nicht etwa, nein, er lässt Dich ruhig und überlegt Deine Aufgaben erledigen. Es stellt sich eine geradezu sonntägliche Ruhe beim Arbeiten ein.“ – „Und wenn ich meine Aufgaben nicht schaffe?“, frage ich den Sonntag in den Spiegel hinein, in dessen Angesicht ich mir nunmehr die Zähne putze. – „Dann musst Du einen anderen Weg gehen“, antwortet mir der Sonntag und fährt ungerührt fort: „Dann wirst Du irgendwann eine Pause machen. Nein, nicht weil es Dir die Uhrzeit so vorschreibt. Sagen wir um 12 Uhr. Aber 12 Uhr kann auch 11, 13 oder 14 Uhr sein. Und die Pause kann zehn Minuten, sie kann aber auch eineinhalb Stunden dauern. Nach der Pause arbeitest Du weiter. Der Nachmittag liegt noch vor Dir. Und schließlich gewährt sich der Feierabend ein Stelldichein. Und wieder folgst Du Deinem Befinden. Deine Kollegen gucken Dich erstaunt an, dass Du um 18 Uhr gehst, oder um 17 Uhr? Das macht nichts. Für sie ist 17 Uhr vielleicht erst um 19 Uhr. Vielleicht folgen sie auch gar nicht ihrer eigenen Uhr. Lass Dich davon nicht beeinflussen. Ihr Tagesablauf ist nicht gesund. Bei ihnen muss der Sonntag erst noch vorbeischauen.“
Mit diesen Worten ließ mich der Sonntag sprichwörtlich in ruh. Ich begann mich anzuziehen. Mein Hund wartete bereits an der Tür auf seinen Morgenspaziergang. Draußen sagte uns die Sonne guten Morgen.
Eine schöne Woche wünsche ich Ihnen. Und wenn der Sonntag bei Ihnen an die Tür klopft, zögern Sie nicht, lassen Sie ihn ein.
Der Alltagsminister
23. Januar 2006
Was halten Sie, liebe Leserinnen und Leser, von den neuerdings verkaufsoffenen Sonntagen? Diese Frage verbindet sich natürlich mit der viel grundsätzlicheren Frage: Was halten Sie vom Sonntag, bzw. was bedeutet Ihnen der Sonntag? – Ich habe mir dieses Wochenende einmal einen verkaufsoffenen Sonntag angeschaut, ein großes Möbelhaus besucht – und prompt vergessen, dass ja Sonntag ist. Die Menschen drängeln sich – wie im Alltag – durch das Kaufhaus. Es ist voll. Die Menschen scheinen den Sonntag tatsächlich zu brauchen, um einzukaufen. Wie kann das sein? War der Sonntag doch immer ein Tag für die Familie, ein Tag, um zu sich selbst zu finden, ein Tag, um sich vom Alltag zu erholen. Bedenkt man, dass wir ja jeden Tag produktiver werden, weniger Zeit benötigen, um das, was uns umgibt, zu produzieren, so muss man sich schon fragen, warum nun ausgerechnet heute die Menschen den Sonntag benötigen sollten, um ihre Einkäufe tätigen zu können? Ich weiß nur eine Antwort darauf: Trotz der gestiegenen Produktivität arbeiten die Menschen, die die Arbeit haben, immer länger, sitzen bis 20 Uhr im Büro und finden so nicht die Zeit und Muße, sich wochentags um ihre Einkäufe zu bemühen. Aus meiner Sicht kann das nicht richtig sein. So ist der verkaufsoffene Sonntag dann auch nur für eines gut: Uns wieder zur Besinnung kommen zu lassen. Darüber, dass wir uns um normale Arbeitszeiten bemühen und uns wieder Freiräume schaffen, Freiräume, um auch den Sonntag wieder zu seinem Sinn und Zweck zu verhelfen. Was denken Sie?
16. Januar 2006
Gestern, nein Vorgestern, liebe Leser und Leserinnen, habe ich die Zeit angehalten. Mehr noch, ich habe gemeinsam mit zwei Damen und einem Herren die Uhr zurückgedreht. Wie war das möglich? Nun, eine Bürgerin, eine Dame im gehobenen Alter von 71 Jahren, mit der ich vor nicht allzu langer Zeit ein Gespräch geführt hatte, hatte mich vergangenes Wochenende zu sich nach Hause eingeladen. Der Grund der Einladung? – Sie werden es kaum für möglich halten: Die Dame wollte noch einmal gemeinsam mit Gästen ihren Tannenbaum anzünden, einmal noch Weihnachten aufleben lassen. Der heilige Abend lag immerhin schon drei Wochen zurück. Dieser Gedanke gefiel mir. War der Rest der Welt doch bereits wieder in den Alltag eingetaucht. Der weihnachtliche Ruhepol nur noch eine Wegmarke, längst aus dem Blick geraten. Schnelllebige Zeit. Entwurzelte Tannenbäume all überall vor die Haustüren gelegt. Und was für ein Exemplar wartete da auf uns, dankbar, noch nicht dem Vergessen preisgegeben zu werden? Ein Prachtstück. Er füllte ein ganzes Zimmer, eine verglaste Veranda, ein weihnachtlicher Wintergarten. Wir tauchten noch einmal ein in die weihnachtliche Atmosphäre. Zeit. Unterhaltung. Aufmerksamkeit. Ein stimmungsvolles Erinnern an die Wesensmerkmale des Lebens, die so schnell wieder im Alltag drohen unterzugehen. Vielleicht müssen wir öfters außer der Reihe Weihnachten feiern.
Ihnen allen zunächst ein glückliches und gesundes Neues Jahr! In meiner ersten Kolumne des Jahres möchte ich Ihnen von einer interessanten Persönlichkeit erzählen. Sie ist mir zwischen Weihnachten und Neujahr begegnet. Die meisten Menschen bewegen sich – zumindest in meiner Wahrnehmung – in zwei existenziellen Fahrrinnen: Sie versuchen zunächst in der Ausbildung, dann im Beruf nach oben zu gelangen. Und sie tun dies nicht zuletzt – vielleicht zuallererst –, um sich mit dem im Beruf verdienten Geld ihre Existenz zu sichern und auszubauen. Die Dame, die mir nun begegnete, hat in dieser Hinsicht schon sehr viel erreicht. Nicht, dass sie viel Geld auf die Seite gelegt hätte. Sie sagte mir freimütig, dass sie nur wenige 1000 Euro angespart hätte. Dafür habe sie aber auch keinen Kredit laufen, fügte sie relativierend hinzu. Aber sie habe ein 1-er-Examen hingelegt und ihre berufliche Laufbahn reiche bereits mehrere Jahre zurück. Dabei arbeite sie ihrer Qualifikation entsprechend und habe schon verschiedene Funktionen in unterschiedlichen Unternehmen wahrgenommen. Und doch bedeute dies ihr alles nichts, das Geld, das sie verdiene, nicht, der hierüber erlangte Lebensstandard nicht und der soziale Status auch nicht. Im Gegenteil, der Rahmen, der ihr dieses (Berufs-)Leben abverlange, enge sie ein, und sie habe ständig mit dem Sinn dieser Lebensart zu kämpfen. Sie denke tatsächlich daran, dies alles aufzugeben, das Risiko materieller Not auf sich zu nehmen und, wie sie sich ausdrückte, „sich auszuprobieren, zu suchen.“ Ich fragte sie, ob sie keine Angst habe, ohne feste Arbeit zu sein, das bedeute in der Regel die Aufgabe vieler gesellschaftlicher Bindungen? Angst, wenn man es so nennen könne, habe sie nur vor diesem vorbestimmten Lebensrhythmus, natürlich auch davor, an den Rand der Gesellschaft gespült zu werden. Diese Sehnsucht einerseits und die Angst vor einer möglicherweise nicht mehr reversiblen Entscheidung andererseits habe sie ja gerade bisher von jenem Schritt in ein anderes, ungewisses Leben abgehalten. Ich fragte sie schließlich noch, mit welchen Vorsätzen sie denn in das Neue Jahr ginge? Sie sagte, mit dem Vorsatz, diesen Konflikt für sich zu lösen. Ein anspruchsvoller Lebensentwurf, der nach einer anspruchslosen Haltung gegenüber den eingangs angeführten, im Wesentlichen materiellen Gesichtspunkten der menschlichen Existenz verlangt. Ich denke an die „guten Vorsätze für das Neue Jahr“, die sonst so in aller Munde sind und werde nachdenklich.
Der Alltagsminister
Hier die Geschichte von einem geglückten Weihnachtsfest. Sie wurde mir erzählt von einem Leser dieser Seite.
Heiligabend. Bei den Eltern findet sich die Tochter ein. Ihr Freund, aus einer fernen Stadt angereist, begleitet sie. Und noch ein Freund ist dabei, ein Seelenfreund, der nun bereits das zweite Mal das Weihnachtsfest in der Familie seiner besten Freundin begeht, die ihn so recht ins Herz geschlossen hat. Die weitläufige Fensterbank der elterlichen Veranda ist geschmückt mit Krippenspielen aus aller Welt. Der Adventskranz spendet weihnachtliches Licht. Der Weihnachtsbaum, festlich geschmückt, mit roten Wachskerzen. Ein herzlicher Empfang. Die Gäste legen ihre Garderobe ab. Und ihre Geschenke, etwas verstohlen und heimlich, unter den Weihnachtsbaum, zu denen, die bereits dort versammelt sind.
Liebe Leserinnen und Leser meiner Kolumne, das Jahr geht zu Ende. Ich bin viel gereist, in Gedanken, in der Bahn, mit dem Auto, ja, auch mit dem Flugzeug. Überall haben mir die Menschen Geschichten erzählt. Alltagsgeschichten. Und nun steht Weihnachten vor der Tür. Fünfmal werden wir noch wach. Ich denke, die Menschen feiern sehr unterschiedlich Weihnachten. Die einen sorgenfrei, die anderen sorgenvoll. Vielleicht lassen sie sich in diese beiden Kategorien sinnvoll unterteilen. Ich werde diese Woche umherreisen und hören und sehen, wie die Menschen Weihnachten feiern. Sie können es am nächsten Montag an dieser Stelle lesen. Heute nur ein kleines Wintergedicht für Sie, von unterwegs:
Wald und Wiesen tief verschneit,
Ruhen in stiller Einsamkeit,
Von leichtem Nebel zugedeckt,
Vom Tageslicht noch nicht geweckt,
Das macht sich – selbst noch müde – dran alle aufzuwecken,
Schon sieht man Bäume, noch verschlafen, ihr Astwerk in den Himmel recken.
Ein Adventskaffee. Ich höre von Verfolgungen. Menschen müssen untertauchen, ihre angestammten Plätze verlassen. Vertrieben. Auf der Flucht. Eine Führungskraft sagt ihrem Mitarbeiter, er solle seine Versetzung positiv sehen. An seinem neuen Arbeitsplatz könne er “untertauchen”. Dort sei er erst einmal sicher. Der Kampf um eine hohe Kapitalrendite fordert seine Opfer. Er bringt, es hat mich überrascht, obwohl es doch nur konsequent ist, wie selbstverständlich ein Verhalten und ein Vokabular hervor, das ich aktuell sonst nur aus der Kriegsberichterstattung oder aus Berichten über Willkürregime kenne. Der Mitarbeiter soll erst einmal an einem anderen Ort untertauchen. Auf der Flucht. Verfolgt von nicht greifbaren, renditehungrigen Konzepten, ihrer Erfinder und Vollstrecker. Ich denke, die Führungskraft ist sich gar nicht bewusst, was sie dort ausgesprochen hat. Sie wird sich für ihre Worte auch nicht verantworten müssen. Wenn doch, würde sie sich sicherlich bis zum Schluss als ausführendes Organ betrachten. Arm einer Maschinerie, deren Vorgaben man nur gefolgt sei. Noch etwas in diesem Zusammenhang: In jedem größeren Unternehmen gibt es eine Abteilung für Personal. Doch trifft diese Bezeichnung schon längst nicht mehr deren Tun. Die Abteilungen für Personal arbeiten nicht für sondern gegen die Mitarbeiter. Ältere Mitarbeiter werden in den Vorruhestand gedrängt. Untauglich. Junge Kräfte werden neu “rekrutiert”. Ein Unternehmen mit mehreren tausend Mitarbeitern schafft es innerhalb kürzester Zeit die Mitarbeiterzahl der über 50-jährigen auf weniger als 200 zu reduzieren. Der Betriebsrat, ein bemühtes aber zahnloses Kontrollorgan. Da mutet die Jahreszeit fast winterlich warm.
Es weihnachtet sehr. Um dem Alltag der Menschen im Dezember zu begegnen, bin ich ausgezogen, habe Weihnachtsmärkte besucht, bin durch Fußgängerzonen gestreift und habe mich umgeschaut.
Ich habe mich das vergangene Wochenende, am Samstag, in einen Zug nach Berlin gesetzt. Es war noch zu sehr früher Stunde, dennoch war ich freudig überrascht, in einem fast leeren Wagen Platz nehmen zu dürfen. Ich hatte mich gerade gesetzt, da betrat, aus der anderen Richtung des Zugwagens kommend, eine Dame den Raum. Sie kam vor meinem Platz zum Stehen, doch sie zögerte, nervös in ihren Zugunterlagen blätternd. Ich vermutete, dass sie evtl. meinen Platz reserviert haben könnte, doch war das Fensterschild, an dem die Reservierungen angezeigt werden, nicht mit einem entsprechenden Zettel versehen. Die Dame sprach mich auch nicht an. Außerdem war ja, wie gesagt, der gesamte Wagen nur mit sehr wenigen Fahrgästen besetzt.
Der Zug fuhr nun schon eine ganze Weile, die Dame stand aber immer noch mit ihrem Gepäck vor den Füßen seitlich angelehnt an meinen Vordersitz. Nach einiger Zeit kam schließlich der Schaffner, um die Fahrscheine zu kontrollieren. Ihn sprach die Dame jetzt an, dass hier doch irgendetwas nicht stimme und nannte ihre Platznummer. Aha, hatte ich also doch nicht falsch gelegen mit meiner Vermutung, dachte ich. Und tatsächlich erklärte der Schaffner, dass die Reservierungen nicht länger in den noch vorhandenen Fensterschildern angezeigt würden, sondern in einer Digitalanzeige an der Unterkante der über den Sitzplätzen verlaufenden Gepäckaufbewahrung. Das wusste ich nicht – die Dame aber schon! Ich bot ihr daraufhin an, gern ihren Platz zu räumen, wies aber darauf hin, dass ja fast alle umliegenden Sitzplätze frei seien. Der Schaffner zeigte dann auch auf den vor mir gelegenen Sitz. Die Dame willigte ein. Warum hatte sie mich nur nicht direkt angesprochen, und warum hatte sie sich nicht einfach auf einen der vielen umliegenden nicht reservierten freien Plätze gesetzt? Das beschäftigte mich.
Die Fahrzeit verlief daraufhin unspektakulär – bis Berlin-Spandau. Hier betrat erneut eine Dame unseren Wagen. Sie bezog – wenn ich es einmal so nennen darf – schräg gegenüber vor meinem Sitzplatz Stellung. Unmittelbar neben ihr saß eine andere Dame am Fenster. Auch auf ihrer Seite standen – wie zuvor bei mir – alle umliegenden Sitze zur freien Verfügung. Die Dame stehend sprach die Sitzende nun an, dass der Platz, auf dem sie sitze, für sie reserviert sei. Die Sitzende bot sogleich an aufzustehen, verwies aber darauf, dass sie nur noch zwei Stationen fahren würde, bis zum Zoologischen Garten nämlich, und dass doch alle anderen Plätze um sie herum frei seien. Während sich die stehende Dame dennoch für ihren Platz einsetzte, beobachtete ich aus dem Zugfenster schauend, wie eine weitere Dame vom Bahnsteig winkte und ganz offensichtlich versuchte, die Aufmerksamkeit der mit dem Rücken zu ihr stehenden, mit all ihrer Aufmerksamkeit auf ihren reservierten Sitz fixierten Dame zu gewinnen. Eine Freundin, dachte ich, die sich mit einem Winken und Lächeln verabschieden wollte. Eine wunderschöne Geste, die Abschiedsgeste, empfand ich, eine der schönsten und natürlichsten überhaupt. Währenddessen hatte sich die stehende Dame durchgesetzt und war nun dabei, den von ihr reservierten Platz einzunehmen, während die von ihrem Sitz Vertriebene schon woanders Platz genommen hatte.
Als Alltagsminister schreibe ich nicht nur auf dieser Seite. Ich lese sie auch. Da ist mir vergangene Woche „im Vorbeilesen“ etwas besonders ins Auge gesprungen. An einer Stelle war von der „Weiterentwicklung des Kündigungsschutzes“ die Rede. Gemeint ist, dass in naher Zukunft Arbeitnehmer ohne Angaben von Gründen gekündigt werden können, auch wenn sie schon bis zu zwei Jahre im Unternehmen arbeiten. Ich will hier nicht auf die arbeitsrechtlichen Implikationen dieses Vorhabens eingehen. Aber es ist doch schon auffallend, dass hier von „Weiterentwicklung“ gesprochen wird.
Im Koalitionsvertrag, ich habe noch einmal nachgeschaut, um mich zu vergewissern, heißt es im Wortlaut: „Wir werden die Chancen für mehr Arbeitsplätze auch erhöhen durch Weiterentwicklung des Kündigungsschutzes…“ Diese Fristverlängerung heißt übrigens arbeitsrechtlich korrekt „Wartezeit“. Sie beträgt bisher noch sechs Wochen. Erst danach beginnen Schutzregeln wie die Sozialauswahl und eine umfassende Mitwirkung des Betriebsrats zu greifen. Warten auf ein sicher(er)es Beschäftigungsverhältnis. Statt bisher sechs Wochen nunmehr zwei Jahre. Für die viereinhalb Millionen Arbeitslosen ist diese „Weiterentwicklung“ wenn überhaupt sicherlich nur sehr bedingt ein Fortschritt. Das Wort „Weiterentwicklung“ impliziert aber – zumindest im alltäglichen Sprachgebrauch – Fortschritt. Das ist vergleichbar mit dem schon seit geraumer Zeit viel gebräuchlicheren Wort „Reform“. Und wer von den rund 26,5 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten wird sich wohl unter solchen Bedingungen dafür entscheiden, aus welchen Gründen auch immer, von einem Unternehmen in ein anderes zu wechseln? Der Berufsalltag der Beschäftigten, wie er an mich durch konkrete Geschichten – Berufsalltagsgeschichten – betroffener Menschen herangetragen wird, ist bereits durch einen enormen Arbeitsdruck und der Angst vor einem Arbeitsplatzverlust bestimmt. Dazu gehört auch das „Spiel mit der Angst“, wie es in dieser Kolumne schon des Öfteren nacherzählt wurde. Diese existenzielle Angst betrifft übrigens keineswegs nur Arbeitnehmer. Die Angst, bestehen zu können, plagt auch Selbständige. Deren wirtschaftliche Lage erlaubt es gar nicht, jemanden einzustellen, ganz unabhängig von diesen arbeitsrechtlichen „Weiterentwicklungen“. Sie können nur Menschen einstellen, wenn sich ihre wirtschaftliche Lage verbessert, wenn Aussicht besteht, dass sich die Einnahmen wieder dauerhaft verbessern. Da sieht aber auch der „normalsterbliche“ Selbständige kein Licht am Ende des Tunnels.
Nun gut, vielleicht lesen die meisten Menschen, weil sie viel zu sehr beschäftigt sind, das Wort Weiterentwicklung gar nicht in dem im Koalitionsvertrag geführten Zusammenhang. Sie lesen aber schon heute wieder in den Zeitungen und hören in den Nachrichten von ganz konkret anstehenden Kürzungen. – Und sie ahnen wahrscheinlich, dass dies ihre Einnahmen nicht verbessern sondern weiter verschlechtern wird. Insofern sind sie vielleicht auch gar nicht auf die Deutung jener politischen Semantik angewiesen. Sie müssen nur eins und eins zusammenzählen, um sich auszumalen, dass es auch weiterhin schwer bleiben wird, sich weiter zu entwickeln.
Wir sind im Umbruch, liebe Leser. Nein, ich rede nicht von den am 11.11. – ja wirklich am 11.11. – bekannt gegebenen Koalitionsvereinbarungen zwischen CDU, CSU und SPD. Da scheint mir doch eher, dass die Politik ihren einmal eingeschlagenen Kurs beibehält. Die eine oder andere Welle mag das Ruder mal mehr auf die rechte mal mehr auf die linke Seite der engen Fahrrinne lenken. In tiefere Gewässer hat man sich auch diesmal nicht vorgewagt – oder zurückgewagt?
Vergangene Woche habe ich eine mir ganz neue Variante der Gehaltsverhandlung kennen gelernt. Sie ist nicht zuletzt deswegen von Interesse, weil durch sie das Wort Sozialmissbrauch eine ganz neue Bedeutung erfährt. Ist der Sozialmissbrauch im bisher verstandenen Sinne, im alltäglichen Sprachgebrauch, doch gerade erst vom noch amtierenden Minister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement, auf ganz unmissverständliche Art und Weise als größter Störenfried der Arbeitsmarktreformen ausgemacht und an den Pranger gestellt worden (siehe hierzu auch die Kolumne vom 24. Oktober 2005).
Der Alltagsminister
Heute melde ich mich vom Lande. Ein Dorfbewohner erzählt mir, er habe gerade den Tank für seine Ölheizung auffüllen lassen – nur zur Hälfte erst einmal, aber schon jetzt habe er dafür das gleiche Geld ausgegeben wie für den vollen Tank im letzten Jahr. Auch auf dem Lande „verkleinern“ die Leute sich. Das Geschäft läuft nicht oder nur schleppend. Die Kunden bleiben weg. Alle scheinen „klamm“ zu sein. Die Menschen schauen hier nicht zuversichtlicher drein als in den Städten. Alles ginge nur noch „über den Preis“. Da scheint es dem Tierzüchter auf dem Lande ebenso zu gehen wie dem städtischen Unternehmensberater. Der eine verkleinert seine Zucht, der andere erzählt mir, dass er im Vergleich zu heute bei seinen Auftraggebern vor einigen Jahren noch das Doppelte an Honorar hat erzielen können. Wo man auch hinschaut, überall heißt es „kleinere Brötchen backen“. Um wenigstens diese kleineren Brötchen noch backen zu können, müssen sich die Menschen noch dazu immer mehr ins Zeug legen. Anstatt nun diesem zähen Teig ordentlich Hefe bei zu mengen, damit die Brötchen hierzulande einmal wieder richtig aufgehen, kündigt die sich gerade erst formierende Regierung zuallererst die Verkleinerung ihrer Backstube an. Dabei haben deren Öfen in den vergangenen Jahren eh schon deutlich an Wärme verloren. Was macht bloß der Müller, denke ich. Wohin mit seinem Mehl, bei diesen ach so kleinen Brötchen? Nun, vielleicht exportiert er es ja in Länder, wo die Brötchen nicht kleiner sondern größer werden. Und was soll erst aus dem ganz großen Kuchen werden, wenn es schon mit den kleiner werdenden Brötchen seit Jahren nicht vorwärts geht. Höchste Zeit für die hohe Politik, denke ich, einmal die zahllosen Backbücher nach den passenden Rezepten durchzusehen. Sonst ist – wie sagt man hier auf dem Lande im übertragenen Sinne – der Ofen irgendwann aus.
Diese Woche habe ich endlich einmal wieder Zeit gefunden und vor, ja draußen vor „meinem“ Café gesessen, diesem Quell von Alltagsgeschichten. Ich habe die wahrscheinlich letzten Spätsommerstrahlen eingefangen – mitten im Oktober! Als ich meine mir fremde Tischnachbarin auf den sich schwer tuenden Herbst aufmerksam mache, antwortet sie ernst aber freundlich: „Ja, der Herbst, er tut sich schwer. Im Sozialen aber“, und erst jetzt richtet sie den Blick zu mir auf, lenkt ihn ab von ihrer Tageszeitung in mein Gesicht, „in der Gesellschaft ist schon seit geraumer Zeit der Herbst eingekehrt, finden Sie nicht?“ „Was meinen Sie?“, frage ich zurück. „Nun“, antwortet Sie, „ich bin selbständig, aber Sie müssen wissen, ich habe vor meiner Selbständigkeit ganze zehn Jahre eine Beschäftigung gesucht. Ich habe mich im Laufe der Jahre hundertfach quer durch die Republik beworben – vergeblich. Entweder war ich zu alt oder überqualifiziert. In diesen zehn Jahren habe ich kein einziges Angebot vom Arbeitsamt bekommen. Und nun lesen Sie das hier.“ Sie reicht mir ihre Zeitung über den Tisch. Der Artikel, auf den sie verweist, berichtet von einer neuen Publikation aus dem Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, von Wirtschaftsminister Wolfgang Clement persönlich ist die Rede. Als Alltagsminister kenne ich den Report natürlich, ich finde es nur interessant, einmal ganz konkret eine Person zu hören, die so gar nicht zu dem Bericht „Vorrang für die Anständigen – gegen Missbrauch, „Abzocke“ und Selbstbedienung im Sozialstaat“, so der amtliche Titel (!), passen will. Wie viele es wohl von solchen Biographien gibt, die meinem Gegenüber ähneln? Und haben es Menschen generell wirklich verdient, von „Ermittlern“ zuhause aufgespürt zu werden, im Schlafzimmer, im Ehebett, wie es der Report geradezu triumphierend beschreibt. Ist das die Lösung der Bundesregierung gegen die Massenarbeitslosigkeit und für den Erhalt des Sozialstaats, bzw. ist unter diesem rechtlich legitimierten Handeln des Staates die oft beschworene „Erneuerung unseres Sozialstaats“ zu verstehen? Auf der Seite Drei des Reports schreibt der noch amtierende Wirtschaftsminister Wolfgang Clement im Vorwort: „Ohne Anstand und Moral kann die Erneuerung unseres Sozialstaats nicht gelingen.“ Als Alltagsminister bin ich nicht nur erschüttert über Stil und Ausdruck dieses behördlichen Berichts. Die Seiten 4 folgende lassen für mich vielmehr jeden Anstand vermissen. Der Bericht spricht für sich selbst, für die „Moral“ und das (Selbst)-Gerechtigkeitsempfinden, die in die Bundespolitik überaus erfolgreich Einzug gehalten haben. Dem Alltag der Menschen und der Lösung von großen gesellschaftlichen Problemen wird die Politik aus meiner Sicht so nicht gerecht. Es ist im Gegenteil eine beschämende politische Kapitulation, die sich auf das Instrumentarium des Rechtsstaats zurückzieht. – Zurück zu der Dame mir gegenüber, wir haben uns angeregt unterhalten, ein kritischer aufgeweckter Geist, kaum zu glauben, dass sie erst ihr eigener Arbeitgeber werden musste, um wieder in Beschäftigung zu kommen. Kaum zu glauben natürlich nur, wenn man die Situation am Arbeitsmarkt ausblended.
Ja ja, das liebe Geld. Das ist nun bestimmt ein alltäglicher Ausspruch. Vielleicht ist es der Meistgehörteste. Und ist es nicht das Geld, das den Alltag dominiert? Das Geld verdienen, das Geld ausgeben, das Geld sparen. Das Geld, das fehlt, die Geldsorgen. Und der Geldbetrag, der Preis. Ja, vielleicht ist der zuletzt genannte das alles bestimmende Element im gegenwärtigen Alltag der meisten Menschen. Was ist darüber hinaus verbreiteter als die Auffassung, den Wert und die Qualität einer Arbeit an ihrem Preis zu bemessen. „Nichts ist umsonst“, heißt es doch. Der Alltag schreibt jedoch auch andere Geschichten. Eine Arbeit, für die viel Geld ausgegeben wurde, erfüllt nicht ihren Zweck. Erst ein guter Rat, umsonst, bringt das berühmte hollywoodsche Happy End. Eine Künstlerin „erfindet“ in einem öffentlichen Park ihren eigenen Garten – und stellt ihn der Öffentlichkeit als „Herbstlaube“ zur Verfügung. Ein Geschenk mit eigens angelegtem Blumenbeet, Tisch und Stühlen. Über den Stühlen hängen Regenschirme, aufgehängt in dem durchlässigen Dach der Äste, die sich von den umherstehenden Bäumen schützend über die „Laube“ neigen. Darunter baumeln Ohrschützer wie heruntergefallene Sauerstoffmasken in einem in Not geratenen Flugzeug. Sie schützen die Gäste vor dem hereinbrechenden Lärm der benachbarten Straße. Und wer geht hier nicht alles ein und aus? Ein Raum, wie geschaffen für das Büro eines Alltagsminister. Taten und Ideen, die mit Geld gar nicht aufzuwiegen sind.
Da ich in der zurückliegenden Woche zwar vielen Menschen begegnet bin, sie allesamt aber mit den Dingen beschäftigt waren, mit denen ich Sie nun schon einige Wochen lang beschäftige, an dieser Stelle heute ein Gedicht zum Alltag. Ich habe es gehört, als ich gestern, am Sonntag Abend, einem Kulturabend beiwohnte, zu dem mich der Dichter eingeladen hatte. Während Sie es lesen, befinde ich mich bereits wieder auf der Spurensuche nach dem Alltäglichen. Wie erfolgreich sie war, können Sie nächste Woche an dieser Stelle nachlesen. Hier das Gedicht zum Alltag.
Nimmt der Alltag seinen Lauf, Die Nachrichten aus aller Welt,
Mit denen mein Radio mich weckt und quält:
Parteienzwist und Eitelkeiten,
Terror, Krieg, Rechtsstreitigkeiten.
Die Welt, so scheint´s, geht langsam unter,
Ich stehe auf, werd derweil munter.
Die Welt des Rundfunks liegt nicht hier:
Müsli, Brötchen, edler Tee,
Noch etwas Milch in den Cafe?
Doch während ich den Überfluss
Vertilgen möchte mit Genuss
Verließt der Sender immerfort – aus der Zentrale und vor Ort
Weitre Schreckensmeldungen – Wort für Wort – Attentate, Völkermord!
Da kommt der Alltag mir, mit meinen eignen Nöten:
Beruf, Gehalt und Sicherheit!
Alltägliche Dreifaltigkeit!
Gewiss ist all dies von Belang,
Und wer´s nicht hat, der ist arm dran.
Die kleinen alltäglichen Sorgen,
Tagein tagaus das Gleiche tun,
All das lässt mich nicht länger ruhen.
So viel Zeit, die hab ich nicht!
Um einmal richtig nachzudenken,
Werd ich von nun an nur, ein Teil meiner Zeit Dir schenken.
Viele von uns sind dieser Tage überfordert. Nein, ich spreche nicht von der Bundestagswahl. Dann hätte ich die Kolumne mit den Worten eingeleitet, viele Spitzenpolitiker, und nicht nur sie, sind überfordert, das Wahlergebnis richtig bzw. ehrlich zu interpretieren. Doch schauen wir nach so viel Wahlkampf wieder einmal auf uns selbst und unseren Alltag.
„Das Leben ist anderswo“, mit diesem Titel des in den 70er Jahren erschienenen Romans von Milan Kundera lässt sich evtl. auch die aktuelle Nachrichtenwelt treffend umschreiben. Seit dem Ausgang der Bundestagswahl beherrscht – von der „BILD“ bis zur „taz“ – die „Kanzlerfrage“ die Medien. Oder ist es umgekehrt?
Warum melde ich mich diese Woche erst am Mittwoch und nicht schon am Montag, wie es diese Kolumne vorsieht? Ja, meine Damen und Herren, liebe Bürger, verehrte Wähler: So ein Wahlergebnis will erst einmal verdaut sein.
Lassen Sie mich heute – knapp eine Woche vor der Bundestagswahl – noch einmal auf den Wahlkampf zurückkommen. Und zwar mit ein paar ganz alltäglichen Fragen.
Gestern saß ich, nach mehrwöchiger Krankheit, zum ersten Mal wieder in jenem bekannten Café, in dem ich so gern zu fortgeschrittener Morgenstunde mein Frühstück zu mir nehme. Und wie schon so oft – das qualifiziert, um nicht zu sagen prädestiniert mich ja geradezu für mein Amt – bin ich erneut Zeuge einer ernsthaften und viel sagenden Unterhaltung geworden. Jetzt wird die so genannte Flat Tax von Herrn Kirchhof also schon von den Normalsterblichen am Sonnabend Vormittag am Frühstückstisch diskutiert. Und ich muss sagen, ich habe da an diesem Morgen einen interessanten Gedanken zur Welt kommen sehen, einen, den ich bisher in keiner Zeitung gelesen habe. Er wurde gewissermaßen vor meinen Augen aus dem gesunden Menschenverstand entbunden. Die Mutter des Gedankens saß direkt vor mir. Die Mutter war ein Herr, der sich, gemeinsam mit einem Freund, an meinen Tisch gesellt hatte. Gewiss hatten sie diesen Schritt nicht aus einem Bedürfnis nach meiner Gesellschaft unternommen. Auch Sie wollten die letzten Sonnenstrahlen des ausklingenden Sommers einfangen, und die einzigen beiden freien Stühle, die ihnen diesen nachvollziehbaren Wunsch an Ort und Stelle erfüllen konnten, leisteten ihren Dienst an meinem Tisch.
Die Redaktion hat mir gesagt, ich soll mich kürzer fassen. Mein Erzählstil würde den Rahmen einer Kolumne sprengen. Nun, ich gebe zu, ich schlage gern ein paar Schlenker, gleich einem 100m-Sprinter, der sich spontan entschließt, aus der vorgeschriebenen Bahn auszubrechen, um der unberührten Rasenfläche, die den Parcours säumt, seine Aufmerksamkeit zu zollen. Und was ist eine Kolumne anderes als eine literarische Kurzstrecke? Also gut. Ich will von nun an versuchen, an dieser Stelle auf geradem Weg ins Ziel zu laufen.
Heute hat mir ein Bürger eine tolle Geschichte erzählt. Vergessen wir also für einen Augenblick den alles beherrschenden Wahlkampf um eine vorgezogene Bundestagswahl, von der noch keiner weiß, ob sie stattfinden wird.
Allerorten – man liest es, man hört es, man bekommt es erzählt – entlassen Unternehmen Mitarbeiter. Und was unternimmt dieser Herr? Er kündigt! „Ein abenteuerliches Unterfangen“, sage ich zu ihm. Er geht darauf nicht ein und erläutert mir die Hintergründe, die ihn zu diesem Schritt veranlasst haben.
Eine weitere Woche ist ins Land gegangen und mit ihr die Entscheidung des Bundespräsidenten für vorgezogene Neuwahlen. Mit meiner Rede (siehe Kolumne vom 18. Juli) lasse ich mir dennoch Zeit. Ist es doch noch dem Verfassungsgericht vorbehalten, die von Bundeskanzler Schröder angestoßene Auflösung des Bundestages für verfassungswidrig zu erklären. Stattdessen grüble ich lieber ein wenig über das entscheidende Kriterium zur Beurteilung der verschiedenen Parteiprogramme, die im – vielleicht ja doch verfrüht – eingeläuteten Wahlkampf in die Öffentlichkeit getragen worden sind. Ihre Inhalte werden so oder so in die politische Praxis Eingang finden, sei es über die bestehenden Machtverhältnisse oder die zukünftigen.
„Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist seit jeher die Politik, die den Alltag der Menschen entscheidend mit bestimmt. Ich betone das deshalb, weil heute in der Öffentlichkeit mehr von Eigenverantwortung als von politischer Verantwortung gesprochen wird. Die, die so sprechen, sind, wohlgemerkt, zuallererst Sie – die politisch Verantwortlichen …“
Diese Woche habe ich in der Zeitung zum wiederholten Male über „das abgesunkene Bildungsniveau unserer Schulen“ gelesen. Das treibt mich an, doch einmal nachzufragen, was denn so den Alltag an unseren Schulen bestimmt. Manchmal muss man auch gar nicht fragen. Die Antworten kommen ganz ungefragt zu einem.
Ich sitze unter wolkenlosem Himmel vor einem schönen Café in der Hamburger Innenstadt und lese. Um mich von meinen Amtspflichten abzulenken und etwas Abstand zum Arbeitsalltag zu gewinnen, bin ich etwas früher als vereinbart zu meiner Frühstücksverabredung erschienen. Es ist schließlich Sonntag. Doch über meinem Nebentisch schwebt der Alltag. Wie ein Schwarm kleiner Fliegen bewegt er sich zwischen den Gesichtern meiner beiden Tischnachbarn. Es müssen Kollegen sein, alte Bekannte, die der Beruf mehr Zeit hat miteinander verbringen lassen, als er irgendeiner anderen menschlichen Beziehung zugestehen würde. Die leichte Sommerbrise trägt Fragmente ihrer angeregten und gleichzeitig etwas matt wirkenden Unterhaltung zu mir herüber. Das Surren der Worte lässt mich immer wieder abschweifen aus meiner Lektüre, und ich beginne in einem Anflug von Protest über einen Sonn- und Feiertagszuschlag für mein Amt nachzudenken. Warum müssen sich die Menschen auch noch in ihrer Freizeit, noch dazu an einem Sonntag über ihre Arbeit unterhalten, denke ich. Doch dann erinnere ich mich an mein Amt und versuche nicht länger meine Ohren zu verschließen. “…Früher sind selbst unsere Führungskräfte um halb fünf nach Hause gegangen, früher, was sage ich, das ist ja alles noch gar nicht so lange her. Heute sitzt der normale Angestellte bis achtzehn, neunzehn, zwanzig Uhr im Büro – wie selbstverständlich…” Der Andere erwidert etwas, ich verstehe nur sein nüchternes „die Zeiten haben sich halt geändert…” „Was hat sich denn geändert? Sind wir unproduktiver geworden, in Not geraten, dass wir immer intensiver und länger arbeiten müssen? – Erinnerst Du Dich”, und hier bekommt die Stimme meines Tischnachbarn einen warmen, fast nostalgisch wirkenden Klang , „dass Du vor nicht allzu langer Zeit selbst noch mit dem Gedanken gespielt hast, weniger zu arbeiten? – Heute findest Du kaum noch den Weg aus dem Büro…” Wie schade, denke ich, der aufkeimenden Nostalgie so brüsk das Wort zu entziehen. Ich versenke mein Gesicht in der großen Schale Milchkaffee, um mich mit einem Schluck dieses Themas zu entledigen. Ich bin gleich zurück, denke ich. Als ich wieder auftauche, blicke ich in das Gesicht meiner Verabredung. Sie strahlt. Sonntag! – „Komm lass uns das Thema wechseln, es ist Sonntag…” und „Du hast Recht, es ist schließlich Sonntag”, weht es vom Nachbartisch zu mir herüber.
Gestern, nein Vorgestern, liebe Leser und Leserinnen, habe ich die Zeit angehalten. Mehr noch, ich habe gemeinsam mit zwei Damen und einem Herren die Uhr zurückgedreht. Wie war das möglich? Nun, eine Bürgerin, eine Dame im gehobenen Alter von 71 Jahren, mit der ich vor nicht allzu langer Zeit ein Gespräch geführt hatte, hatte mich vergangenes Wochenende zu sich nach Hause eingeladen. Der Grund der Einladung? – Sie werden es kaum für möglich halten: Die Dame wollte noch einmal gemeinsam mit Gästen ihren Tannenbaum anzünden, einmal noch Weihnachten aufleben lassen. Der heilige Abend lag immerhin schon drei Wochen zurück. Dieser Gedanke gefiel mir. War der Rest der Welt doch bereits wieder in den Alltag eingetaucht. Der weihnachtliche Ruhepol nur noch eine Wegmarke, längst aus dem Blick geraten. Schnelllebige Zeit. Entwurzelte Tannenbäume all überall vor die Haustüren gelegt. Und was für ein Exemplar wartete da auf uns, dankbar, noch nicht dem Vergessen preisgegeben zu werden? Ein Prachtstück. Er füllte ein ganzes Zimmer, eine verglaste Veranda, ein weihnachtlicher Wintergarten. Wir tauchten noch einmal ein in die weihnachtliche Atmosphäre. Zeit. Unterhaltung. Aufmerksamkeit. Ein stimmungsvolles Erinnern an die Wesensmerkmale des Lebens, die so schnell wieder im Alltag drohen unterzugehen. Vielleicht müssen wir öfters außer der Reihe Weihnachten feiern. Der Alltagsminister