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Als wären alle Wahlberechtigten Berlins, Brandenburgs und des Saarlands nicht wählen gegangen

Je nachdem, wo man zu Hause ist, ließe sich auch sagen: Als hätten Hessen und das Saarland nicht gewählt; oder: als hätten Sachsen und Thüringen nicht gewählt. So viele Wahlberechtigte, wie in den hier zusammengewürfelten Ländern sind in Nordrhein-Westfalen nicht zur Wahl gegangen: 5,4 Millionen Wahlberechtigte.

Die Wahlsiegerin, alte und neue Ministerpräsidentin, Hannelore Kraft, sagte unmittelbar nach Bekanntgabe der ersten Wahlergebnisse: “Wir haben den Menschen in den Mittelpunkt gestellt im Wahlkampf.” Jene 5,4 Millionen aber haben sie und die anderen Parteien nicht erreicht. Rund 40 Prozent aller Wahlberechtigten; etwas mehr als die SPD insgesamt an Zweitstimmen erhalten hat. Immerhin: 120.000 Menschen, die bei der letzten Wahl zu Hause geblieben waren, soll die SPD laut Infratest Dimap zur Wahl mobilisiert haben.

Die Bedeutung der Wahlbeteiligung wird verharmlost

In den Berichten zur Wahl taucht diese ungeheure Größenordnung – 5.362.309 Menschen, die nicht gewählt haben, obwohl sie durften – nur als nüchterne Prozentzahl auf; und selbst da wird die Zahl derer gezeigt, die gewählt haben. Schon das macht einen Unterschied in der Wahrnehmung. Eine Wahlbeteiligung von rund 60 Prozent klingt anders, als die Botschaft, dass 40 Prozent oder 5,4 Millionen Wahlberechtigte der Wahl fern geblieben sind. Die Wahlsieger und auch die Wahlverlierer thematisieren die Wahlbeteiligung zumeist nicht und wenn nur auf das eigene Wahlergebnis bezogen. “Immer mehr Menschen, die uns potenziell wählen würden, bleiben zu Hause”, sagte Sahra Wagenknecht am Wahlabend.

Und doch klingt hier ein sehr grundsätzliches Problem durch, vor dem Armin Schäfer vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln bereits 2009 gewarnt hat: “Bei Europa-, Landtags- und Kommunalwahlen geben heute weniger Wahlberechtigte denn je ihre Stimme ab. Diese Entwicklung schadet der Demokratie, weil die Wahlabstinenz sozial ungleich verteilt ist.”

Über 90 Prozent Wahlbeteiligung in den 70er Jahren – niedrige Wahlbeteiligung signalisiert soziale Ungleichheit

Schäfer erinnert daran, dass in den 70er Jahren die Wahlbeteiligung noch bei 90 Prozent lag. “Seitdem ist sie in jedem Jahrzehnt und bei allen Wahlarten gesunken”, attestiert Schäfer. “Nun ließe sich die geringe Beteiligung hinnehmen, beträfe dieser Rückgang alle Bevölkerungsschichten in gleichem Maß. Das ist aber nicht der Fall.” Politikwissenschaftliche Studien, so Schäfer, zeigten “einen engen Zusammenhang zwischen Bildung, Einkommen und Erwerbstätigkeit einerseits und der Wahlwahrscheinlichkeit andererseits.” Während bei einer hohen Wahlbeteiligung diese Faktoren nicht ins Gewicht fielen, signalisiere eine niedrige Wahlbeteiligung immer soziale Ungleichheit. Unter Verweis auf die Kommunalwahl in Köln 2009 hält Schäfer fest:

“In Stadtteilen mit hoher Arbeitslosigkeit und vielen Hartz-IV-Empfängern lag die Wahlbeteiligung zwanzig Prozentpunkte niedriger als in Stadtteilen mit wohlhabenderen Bevölkerungsschichten. Die Höhe der Wahlbeteiligung lässt sich demnach durchaus aus der sozialen Lage eines Viertels ableiten: Je ärmer ein Stadtteil, desto weniger Menschen wählen.”

Schäfer sieht “den Kern der Demokratie” gefährdet: das Prinzip politischer Gleichheit. Die Interessen der sozial Schwachen drohten vernachlässigt zu werden. Schäfer warnt: “Schließlich könnte der Effekt eintreten, dass Politiker sich weniger um sozial benachteiligte Stadtteile kümmern, weil dort ohnehin kaum Wählerstimmen zu holen sind. Anstatt dort in die Qualität von Schulen und Infrastruktur zu investieren, kann es bei knappen Ressourcen mehr lohnen, sich auf wohlhabende Stadtteile zu konzentrieren.” Schäfer schließt: “All dies legt nahe, dass der Rückgang der Wahlbeteiligung uns stärker alarmieren sollte, als dies bisher der Fall ist. Gelingt keine Trendwende, droht das Wählen zum Privileg einer gebildeten, gut verdienenden Minderheit zu werden.”

Welcher Politiker an den Schalthebeln der Macht aber hat sich dieses Themas seitdem angenommen? Ihre Reaktionen nach der Wahl und der Wahlkampf selbst sprechen eine klare Sprache: Keiner. Am 9. März 2012 – so las ich heute im Vorwärts – sagte der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Sigmar Gabriel, im Rahmen einer Buchvorstellung doch tatsächlich: “Die SPD war nie die Partei der Arbeitslosen.” Für das dort vorgestellte Buch fungierte Gabriel als Herausgeber. Der Titel des in diesem Jahr im Vorwärts Verlag erschienenen Buches: Die Kraft einer großen Idee. Europäische Moderne und Soziale Demokratie.

In dem Buch schreiben u.a. Frank-Walter Steinmeier über Globalisierung und Peer Steinbrück über Wirtschaft. DGB-Chef Sommer schreibt über Arbeit. Sie alle haben in führender Funktion den Sozialabbau, der seit der Agenda 2010 stattgefunden hat, mit zu verantworten – und zeigen bis heute keine Einsicht oder bieten gar eine klare Alternative. Auf jenen Zeitraum bezogen ist Gabriel daher Recht zu geben: Die SPD war nicht die Partei der Arbeitslosen. Ob sie es wieder werden will, ist laut Gabriel offen – zumindest ist dazu nichts im oben zitierten Bericht zu lesen.

SPD 2012 in NRW von weniger Menschen gewählt als bei historischer Niederlage 2005 – obwohl die Zahl der Wahlberechtigten 2012 höher lag

Steinbrück, der für bzw. gegen die SPD in NRW 2005 ihre 48-jährige Vormachtstellung mit einer krachenden Wahlniederlage beendete, deregulierte wenig später als Finanzminister die Finanzmärkte in noch nie dagewesenem Ausmaß. Die Wahlbeteiligung in NRW lag damals immerhin noch bei 63 Prozent. Haben am vergangenen Wahlsonntag 3.050.000 Menschen in NRW SPD gewählt (Zweitstimme), so waren es 2005 3.058.988. Die SPD hat also am Sonntag die Wahlen gewonnen, obwohl sie weniger Menschen gewählt haben als bei ihrer historischen Wahlniederlage 2005. Und das, obwohl die Zahl der Wahlberechtigten 2012 höher lag als 2005.

Jedem, dem die parlamentarische Demokratie wichtig ist, sollte dies Anlass zum Nachdenken sein.


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